Magyria 01 - Das Herz des Schattens
beobachten. Sie war unwirklich schön, eine sehr große, schlanke Gestalt mit kinnlangem rötlichem Haar, das glatt herabfiel und ihr blasses Gesicht betonte. Ihre Augen, deren Farbe er aus der Entfernung nicht erkennen konnte, musterten ihn, ihre roten, sanft geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.
Als er aufsprang, war sie verschwunden.
»Da!«, rief er. »Habt ihr sie bemerkt? Die Frau!«
Er sprang ihr nach. Vor sich sah er wie eine Flamme ihr
Haar aufblitzen, ihr dunkles Kleid - oder war es wieder nur der Schatten der Bäume?
Da waren schon die Höhlen. Er hatte gewusst, dass die Falle in ihrer Nähe aufgebaut war, aber ihm war nicht klar gewesen, wie nah. Mattim warf einen schnellen Blick über die Schulter. Von dort hörte er schon die beiden anderen Hüter rufend durchs Gehölz stürmen. Ohne zu überlegen wandte er sich wieder den Höhlen zu. Er duckte sich in den niedrigen Eingang und verschwand im Dunkel.
Mattim tastete sich am Fels entlang. In der Nähe des Eingangs war die Höhle noch vom matten Tageslicht erleuchtet, wenige Meter dahinter lag alles in Finsternis. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Hin und wieder blieb er stehen und horchte. Ihm war, als könnte er die Schritte der Fremden vor sich hören, die kurzen, schnellen Schritte einer Frau, die es eilig hatte.
Sie war da, irgendwo vor ihm. Ein Schatten. Er wusste, dass sie ein Schatten war, hatte es in dem Moment gespürt, als er sie sah. Er zweifelte nicht daran, dass in einer anderen Umgebung allein ihre Schönheit die Blicke auf sich gezogen hätte, doch hier, mitten im Wald, würde keine Dame aus Akink spazieren gehen. Keine Kräutersammlerin aus den Dörfern würde sich so weit ins Gebiet der Schattenwölfe wagen. Sie konnte nur ein Schatten sein, auch wenn sie am helllichten Tag auftauchte und das eigentlich gar nicht möglich war. Hier ruhte das Geheimnis, hier in der Höhle.
Er bewegte sich nicht und lauschte. Ein kühler Luftzug strich an seinem Gesicht vorbei, ihn schauderte. Jeden Moment konnte sie ihn anspringen, ihn packen, ihm ihren giftigen Kuss aufdrücken …
»Mattim?« Seine Gefährten riefen von draußen. »Mattim, bist du da drin?«
»Ich bin hier«, erwiderte er laut. Er konnte das plötzliche
Zittern, das ihn ergriffen hatte, kaum unterdrücken, als er zurück ins Licht stolperte.
»Wir brauchen eine Fackel«, sagte er. »Ich will diese Höhlen untersuchen. Sie …« Er brach mitten im Satz ab, bevor er zu viel verraten konnte. Wenn er eingestand, dass er einen Schatten gesehen hatte, würden sie ihn erstens für verrückt halten, weil er diesem folgte, statt zu fliehen, und zweitens würden sie ihn auslachen, weil es tagsüber gar keine Schatten hier geben konnte.
Er machte einen Schritt auf seine Kameraden zu, und sie wichen vor ihm zurück.
»He, ihr glaubt doch wohl nicht …« Fassungslos blickte er in ihre von Zweifel und Unsicherheit geprägten Gesichter. Als er die Angst in ihren Augen aufflackern sah, lachte er laut. »Ich bin kein Schatten! Ich war nur kurz da drin, mir ist nichts passiert!« Er öffnete seinen Kragen. »Seht ihr? Keine Bissspuren, nichts.«
»Das reicht nicht. Du kennst die Vorschriften.« Palig zuckte verlegen die Achseln. »Du musst uns beweisen, dass du unverletzt bist.«
»Vor einer Dame?«
Alita verzog nicht einmal das Gesicht. »Nun mach schon.«
Wenn man sich an die Vorschriften hielt, verlor man nur kostbare Zeit. Diese Zeit hatte er nicht, denn in diesen wenigen Minuten konnte die Schattenfrau sonst wohin in ihrem steinernen Labyrinth verschwinden. Aber seine Gefährten würden ihn nicht einmal in die Nähe der Brücke lassen, wenn er ihnen nicht bewies, dass er immer noch ein Mensch war. Besser hier, als sich vor ganz Akink zu entblößen, um jeden Zweifel auszuräumen.
Zornig schälte Mattim sich aus seiner Kleidung. Die anderen hielten nach wie vor Abstand und musterten jeden Zoll seiner hellen Haut. Schließlich stand er nur in Unterhose vor ihnen. Sein Gesicht glühte.
»Dreh dich um«, wies Palig ihn an, als hätte auf einmal er das Recht, Befehle zu erteilen. »Was sind das für Streifen auf deinem Rücken?«
»Kratzer«, gab Mattim schroff zurück. »Alt und verheilt, wie du unschwer erkennen kannst.«
»Was ist mit deinem Arm?«, wollte Alita wissen und beugte sich vor, ohne auch nur einen Fußbreit näher zu kommen. »Dort, am Handgelenk.«
»Das war ein Kaninchen. Und da hat mich ein Huhn mit seinem Schnabel
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