Magyria 02 - Die Seele des Schattens
hinunter. Sie tupfte sie mit dem Taschentuch ab, aber es kamen immer neue, so als wollte ihr Körper sich von jedem Wort und jedem Blick und jeder Berührung Kununs reinigen.
VIER
Budapest, Ungarn
An diesem ersten Abend in Atschoreks Haus kam seine Schwester in sein Zimmer. Mattim hatte sich schon zu Bett gelegt und wunderte sich darüber, wie man sich gleichzeitig so fremd und so heimisch fühlen konnte. Ohne Hanna kamen ihm dieser Raum und dieses Haus und sein ganzes Leben leer vor – dabei hatte er sie nur ein paar Stunden nicht gesehen –, aber bei den Szigethys hatte er sich niemals richtig wohlgefühlt. Hanna lebte und arbeitete dort, er dagegen war nur ein heimlicher Gast, ein Eindringling, der sich dort verkroch.
Hier bei Atschorek zu sein hatte dagegen etwas von einem eigenen Heim, einer Bleibe, auf die er eine Art Anrecht hatte. Nicht einmal bei Kunun hatte er sich so gefühlt. Ganz bestimmt nicht bei Kunun. Am Baross tér war ihm nie so zumute gewesen, als wäre er angekommen, statt nur auf der Durchreise zu sein. Hier jedoch packte er seine Sachen aus und sah sich um, und es fühlte sich an wie ein Stück Zuhause. Fort von Kunun. Frei von Kunun.
Seine Schwester setzte sich auf die Bettkante und wuschelte ihm durchs Haar, genau wie seine Mutter es früher getan hatte, als er noch klein war.
»Eine Gutenachtgeschichte?«
»Atschorek«, protestierte er lachend, »ich bin siebzehn.«
»Na und? Ich war nie zu Hause, als du klein warst.« In diesem Moment erinnerte sie ihn wirklich an seine Mutter.
»Wärst du denn gerne zu Hause gewesen? Hast du es ihnen übel genommen, dass sie dich weggeschickt haben?«
Atschorek warf ihm einen unergründlichen Blick zu.
»Vor langer Zeit«, erzählte sie, »als Magyria noch voller Zauber war, das Land der Magie, pflegten die Menschen hin und wieder die Grenzen von Traum und Wirklichkeit zu überschreiten. Sie setzten ihren Fuß in jenes andere Land, das nur einen Lidschlag von unserem entfernt ist, und besuchten dort die Schläfer. Sie kamen zu ihnen als Wölfe, suchten sie in ihren Träumen heim und sangen sie in den Schlaf. Sie kamen zu ihnen als graue Schatten und …«
»Das ist die Geschichte, die Vater mich nicht hören lassen wollte!«
Atschorek lachte leise. »Dann muss seine Angst wirklich sehr groß sein. Nun ja, wir wissen alle, dass sie das ist … Hör mir gut zu, Mattim.
Graue Schatten waren sie, wenn sie die andere Seite betraten. Wenn sie zu den Menschen kamen in ihren Häusern und Dörfern und vor ihren Fenstern heulten, in hellen Nächten unter dem Mond … Eines Tages sprang ein Wolf durch das offene Fenster eines einsamen Hauses und verliebte sich in das Mädchen, das dort schlief. Mondlicht fiel auf ihr Gesicht, und sie erschien ihm schöner als jede andere, die er je gesehen hatte, in dieser oder jener Welt. Also beschloss er, seinem Wolfsdasein zu entsagen, um die Liebe dieser Frau zu erringen. Er verwandelte sich in einen Mann und schloss den Wolf aus seiner Seele aus. Von nun an streifte er nicht mehr mit seinen Brüdern und Schwestern durch die Wälder und sang auch nicht mehr ihre Lieder unter dem Auge der Nacht. Er nahm die junge Frau mit zu sich nach Hause und bemühte sich um ihretwillen, immer menschlicher zu werden.«
Etwas an dieser Geschichte traf Mattim bis ins Herz. »Ist es ihm gelungen?«
»Oh ja. Das ist es. Vielleicht sogar zu gut. Denn der Wolf irrte durch die Wälder und suchte nach dem verlorenen Teil seiner Seele. Er schritt durch die Welten und durch die Träume, und diese Träume wurden nicht einfach nur grau, sondern finster und schrecklich, sodass die Menschen sich in ihren Betten herumwälzten und schrien, sodass die Kinder weinten. Immer größer und dunkler wurde der Wolf. Er heulte vor dem Haus des Mannes, der ihn verstoßen hatte, bis dieser die Fensterläden schloss und seine Tür verrammelte. Bis dieser eine Burg baute, in die der Wolf nicht eindringen konnte. Bis er eine Stadt baute, an deren Mauer der Wolf umkehren musste. Aber der Wolf wurde größer und größer und heulte noch immer in den Nächten nach ihm … Da grub der Mann einen Graben und sammelte Wasser darin, bis es ein breiter Strom wurde, damit der Wolf ihn nicht erreichen konnte.«
Atschoreks Stimme versagte, sie räusperte sich. »Der Mann und sein Mädchen bekamen Kinder. Ein Kind, hell und strahlend wie das Licht, und eines, das war ein Wolf. Zu Tode erschrocken trug der Mann dieses Kind hinaus in den Wald und setzte es unter einem
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