Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Baum aus. So tat er es mit allen seinen Kindern. Die hellen, strahlenden zog er auf und ließ sie über seine Stadt herrschen, die jungen Wölfe dagegen warf er hinaus in die Dunkelheit. Doch je heller die Stadt leuchtete, in der die Kinder des Lichts wohnten, umso tiefer wurden die Schatten in den Wäldern, umso größer und mächtiger wurde das Dunkle, das dort hauste. Es war wie eine Seuche, die sich im ganzen Wald ausbreitete. Wen auch immer die Wolfskinder bissen, er wurde einer der Ihren. So wurden sie mehr und immer mehr. In jeder Vollmondnacht kamen sie an das Ufer des großen Flusses und sahen zu der Stadt hinüber, aus der sie vertrieben worden waren. Die Söhne und Töchter des Lichts aber standen an der Mauer und blickten zum Wald hin, als befände sich dort alles, wonach sie sich sehnten.«
Mattim wartete darauf, dass es weiterging. »Das war’s?«, fragte er schließlich.
»Das ist die Geschichte«, bestätigte Atschorek.
»Wie viel davon ist wahr?«
»Es ist ein Märchen, das man kleinen Kindern erzählt. Warum sollte irgendetwas davon wahr sein?« Aber sie lächelte schmerzlich.
»War es unser Vater?«, fragte er leise. »Dieser Mann?«
»Die Geschichte ist älter als unser Vater«, gab Atschorek zurück. »Viel älter.«
»Warum durfte ich sie dann nie hören? Hatte er Angst, ich könnte auf der Seite der Wölfe stehen? Der Mann in der Geschichte hatte doch keine Wahl. Wenn er den Wolf nicht fortgeschickt hätte, hätte ihn das Mädchen nicht geheiratet. Dann hätte es keins der Kinder gegeben, kein einziges.«
»So kann man es sehen.«
»Es ist unfair. Die Wölfe vermehren sich so mühelos. Kein Wunder, dass der Schatten derart groß wird. Die Kinder des Lichts werden immer in der Minderheit sein.«
»So ist es.«
»Sie haben keine Chance, sie werden verlieren.«
»Ja«, sagte Atschorek. »Denn der Schatten wird zu ihnen kommen. Er wird irgendwann lernen, wie man den Fluss überwindet.«
»Und dann wird das Licht ganz verlöschen.«
»Nicht unbedingt.« Atschorek berührte mit sanften Fingern seine Stirn. »Vielleicht wird auch alles gut. Wenn zusammenkommt, was eins war. Wenn sie wieder zusammenfinden, die getrennten Kinder. Ist es dann nicht so, wie es von Anfang an hätte sein sollen? Vielleicht wird das Licht die zerrissenen Seelen heilen.«
»Wird sie so enden, die Geschichte? Die Wölfe kommen zurück, und alles ist wie am Anfang? Oder«, überlegte er, »oder werden die Wölfe jeden beißen, den sie in der Stadt aufspüren, und das Licht wird völlig erlöschen? Dann wird der Schatten über allem liegen. Dann wird es dunkel, endgültig und unumkehrbar.« Mattim schauderte. »Die Wölfe sehnen sich nach dem Licht. Sie dürfen es nicht auslöschen.«
»Jeder Wolf fürchtet das Feuer.«
»Und liebt den Mond. Sie dürfen es nicht auslöschen!«, wiederholte Mattim.
»Es ist nur eine Geschichte.« Atschorek beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Über das Geländer schaute Hanna hinunter in das Kaminzimmer, das im glitzernden Vormittagslicht einladend gemütlich und völlig harmlos wirkte. Sie legte eine Hand sacht auf das dunkle Holz des Geländers. Er musste sie nicht fragen, was sie sah. Rékas leblose Gestalt auf dem Teppich. Im ersten Moment hatte auch er geglaubt, dass sie tot war, geopfert von seinem mitleidlosen Bruder, unter den wachsamen Augen seiner grausamen Schwester.
Nein, er hätte Hanna nicht in dieses Haus einladen sollen. Genauso falsch war es, diesen Hunger in sich zu spüren, dieses Verlangen, das ihn überkam, während er sie sanft küsste. Er hasste sich dafür, dass er sie so sehr brauchte. Dass er nicht die Wahl hatte, sie gehen zu lassen. Zurück in eine Welt, in der Vampire nichts als ein Märchen waren, um ängstliche Gemüter zu gruseln. In eine Welt, in der sie sicher war und glücklich. Er brauchte sie; sein Leben hing von ihr ab. Trotzdem zögerte er, obwohl das Licht in seinen Augen zu brennen begann und seine Fingerspitzen kribbelten, obwohl die Märzsonne, die durchs Fenster glühte, ihn versengte.
Er konnte Hannas Unbehagen so deutlich spüren, dass es mehr schmerzte als der Brand, der sich über seine Haut zog. Noch nicht sichtbar, aber eine reale Gefahr. In seinem Mund pochte es, er fühlte, wie sich seine Zähne bereits verlängerten, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief, wie er nach dem Leben gierte, das ihn retten konnte, nach ihrem süßen Geschmack, ihrem Duft. Lebensspendend, sprühend, wie eine Woge aus Hoffnung,
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