Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Hof hinweg spürte er die Angst des Wolfs, sein Unbehagen und seine Feindseligkeit.
Bruder, dachte er und schickte ihm besänftigende Gedanken. Bruder, warte nur noch einen Augenblick.
» Willst du wirklich Hanna da mit reinziehen? Wenn ihre Gastfamilie zu viele Fragen stellt, wirst du eine Menge Leute alles vergessen lassen müssen.«
»Ja«, gab Mattim zu, »du hast recht.«
»Wartet.« Einer der Schatten nickte ihnen zu und verschwand im Treppenhaus. Wenig später war er zurück. In seiner Hand lag ein kleines, schwarzes Gerät, das Mattim entfernt an eine Zange erinnerte.
»Was ist das?«
»Ein Elektroschocker.«
»So etwas benutzt du?«, rief Atschorek entgeistert aus.
»Ich habe es einmal einem – Opfer abgenommen«, berichtete der Vampir widerstrebend. »Als ich sie beißen wollte, zückte sie dieses Ding. Es hat mich allerdings nicht so umgehauen, wie sie erwartete.«
»Erzähl mir nicht, dass du so etwas einsetzt, wenn du auf Beutefang gehst.«
»Wie funktioniert das?«, mischte Mattim sich ein.
»Bela würde einen Stromschlag erhalten, der ihn für eine Weile außer Gefecht setzt.«
»Was heißt eine Weile?«
»Nur ein paar Sekunden.« Der Vampir zuckte mit den Achseln.
»Oder wir besuchen doch lieber eine Apotheke«, kam Goran auf diesen vernünftigen Vorschlag zurück. »Wir könnten auch einen Tierarzt rufen und ihn anschließend vergessen lassen, was er hier gesehen hat.«
Sie sahen alle den jungen Prinzen an. Auf einmal war es seine Entscheidung. Sogar Atschorek hielt sich zurück.
»Hast du Bela gekannt, bevor er ein Wolf wurde?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie heiser.
»Was war er für ein Mensch? Was hätte er bevorzugt? Dass wir andere mit hineinziehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er wirkte so ruhig, aber das täuschte. Bei ihm musste alles immer sehr schnell gehen. Hauptsache, es geschah sofort. Er hasste nichts mehr als zu warten.«
Mattim nahm den Elektroschocker in die Hand. Fremd und kühl lag das schwarze Gerät zwischen seinen Fingern.
»Das Problem ist, dass du ganz nah an ihn heranmusst«, sagte der technisch versierte Vampir. »Es gibt ja auch diese modernen Dinger, mit denen du von weitem …« Er brach ab. »Vergiss es. Das ist das, was wir jetzt hier haben.«
»Ich geh rein zu ihm.«
»Mattim …« Atschorek legte zweifelnd die Stirn in Falten. »Vergiss nicht, wie verwundbar du bist. Alles, was er dir antut, wirst du für immer behalten. Jeden Kratzer, jeden Biss.«
»Oh Mattim, pass bloß auf!«, flehte Goran.
Der Wolf knurrte im Schatten, als Mattim sich ihm vorsichtig näherte. Er wusste, dass es Wahnsinn war. Es gab keinen Grund, es auf diese Weise zu tun. Er hätte warten können, bis ein Tierarzt kam, warten, bis jemand ein Gerät mit größerer Reichweite besorgt hatte. In einem Winkel seines Verstandes wusste er das alles. Nur änderte das nichts daran, dass er nicht warten konnte, dass er sich die ganze Zeit gewaltsam hatte zurückhalten müssen, um nicht sofort in den Hof zu stürzen, hierhin, wo das schwarze Tier lauerte.
Vorsichtig, Schritt für Schritt, näherte er sich der Mitte, dem großen Brunnenbecken. Er streckte die Hand aus, in der er den Schocker hielt.
»Wo bist du«, lockte er leise. »Komm zu mir. Ich bin’s.«
Ein tiefes Grollen antwortete ihm, eine Warnung.
Mattim zögerte. Aber war Bela nicht sein Bruder? Er würde ihn nicht verletzen. So wie Wilia ihn nicht verletzt hatte, als sie ihm in den Rücken gesprungen war, um ihn zu einem Schatten zu machen. Und es nicht tun konnte. Weil sie zusammengehörten, die Söhne und Töchter des Lichts.
»Bela? Ich bin es, Mattim.«
Der Wolf stand auf. Nur sein gewaltiger Schädel ragte in den Schein der Laternen, seine runden Augen spiegelten das Licht. Er zog die Lefzen hoch und entblößte die Armee seiner schimmernden, messerscharfen Zähne.
Mattim streckte die Hand vor.
»Beweg dich nicht.« Kununs Stimme klang so nah, dass er direkt hinter ihm stehen musste, den Mund knapp über Mattims Ohr. Der Jüngere drehte sich nicht um. Wie zu einer Statue erstarrt, hielt er still.
Kununs Hand legte sich sehr langsam um seine und zog ihm den Elektroschocker vorsichtig aus den Fingern.
»Geh zur Seite«, flüsterte Kunun. »Langsam.«
Der Wolf starrte sie an.
Kunun stieß Mattim zur Seite und sprang nach vorne. Sie gingen gleichzeitig aufeinander los, er und der Wolf, und sie schrien beide gleichzeitig auf. Dann lag der Wolf auf der Seite und zuckte.
»Schnell!«, rief der Schattenprinz.
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