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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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konzentrieren, du mußt dich konzentrieren!) – wenn aber dies verändert werden kann; wenn es Formeln gibt, deren Anwendung einen Riß in die Unausweichlichkeit schlägt ... Es geschieht immer wieder; jeder verwirrte Hellseher, der betrunken durch seine Visionen taumelt, ist der Welt schon Gefahr und Ärgernis. Aber er weiß nicht, was er tut, er versteht es nicht, zu seinem Glück. Natur, was bedeutet das? Jedenfalls nicht Pflanzen, grüne Wälder, blumenbestreute Hügel, all dieser Kitsch. Natur, das heißt: Gesetze. Eine Diktatur, der zu entkommen keinem gegeben ist.
    David spürte, wie seine Finger ein Blatt zerknüllten und fallen ließen; er riß ein neues ab; sein Mund war völlig trocken; er schluckte, aber das half nicht; er räusperte sich, es half auch nicht. Er mußte sich konzentrieren! Es hing alles davon ab, daß Grauwald die Formeln verstand. Alles. Er warf einen Blick auf die zerrinnenden Tropfen am Fenster.
    Ja, damals hatte er die Herausforderung angenommen.

VIII
    Bald nach ihrer Rückkehr aus Afrika veröffentlichte Marcel ein dünnes Buch. Es hieß Abenteuer und war eine Sammlung von kurzen Beschreibungen alltäglicher Dinge: Eine Fahrt mit der U-Bahn (die Gerüche von Pizza, Fäulnis und Metall, der Dreck, das gelbe Staublicht), die Mahlzeit in einem Restaurant unter den plätschernden Akkorden von Schlagermusik, der Einkauf von Schuhen (am Anfang immer, jawohl immer, ein Paar, das einem nicht gefällt, und erst als drittes eines, das man gerne hätte, aber es ist eine halbe Nummer zu klein), die allerersten Gedanken morgens zwischen dem über eine halbe Minute gedehnten Moment des Aufwachens und dem Öffnen der Augen, wenn die Geräusche noch ein Teil des Traumes sind und es undenkbar scheint, tatsächlich aufzustehen. Auch das Gefühl, verirrt zu sein: Auf einmal sehen alle Straßen einander ähnlich und furchtbar unähnlich jeder Straße in der Erinnerung, und es erwartet einen an jeder Ecke dieselbe Gemüsehandlung mit demselben winselnden Pudel neben der Tür. Und all die ärgerlichen, überflüssigen und doch seltsam beglückenden Schwierigkeiten bei der Reparatur eines alten Fahrrades mit seiner gerissenen, von Rost angefressenen Kette.
    Es war ein kleines Meisterwerk. Es wurdenzweihundert Exemplare verkauft, es erschienen fünf abfällige, zwei hämische und zwei gleichgültige Rezensionen, und nach einem Jahr nahm der Verlag den Rest der Auflage vom Markt. »Ich werde«, sagte Marcel, »nie mehr etwas schreiben.«
    »Unsinn!« sagte David. »Nur weil ein Buch ...«
    »Aber nein. Ich bin nicht beleidigt. Es ist völlig in Ordnung. Ich werde es nur nicht mehr tun.« Marcel lächelte, und sein mageres Gesicht legte sich in Falten. Und David hätte nicht sagen können, ob er es ernst meinte.
    David begann sein Studium. Er saß in Einführungsseminaren, unterdrückte das Gähnen, zeichnete Figuren – Strichmännchen, langohrige Hunde, technische Diagramme – und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, daß er all das schon wußte, daß er alles wußte, was die Assistenten wußten, und noch viel mehr. Es gelang ganz gut. Einmal fragte jemand, ob er es war, der den Prix Science de Jeunesse bekommen hatte; aber woher denn, lachte er, und was sollte das überhaupt sein? Eine Philosophiestudentin, die nicht sehr hübsch, aber sympathisch war, lud ihn zu sich nach Hause ein. Sie teilten ein Abendessen, und dann schliefen sie miteinander, und für ein halbes Jahr wohnte David bei ihr, in einem Zimmer voller Kafkabände und mit Fotos französischer Modeautoren an allen Wänden. Als sie die Stadt verließ, übernahm David ihre Wohnung: Sie arrangierten einen quälendtraurigen Abschiedsabend; aber David bat sie nicht zu bleiben, und sie bat ihn nicht mitzukommen.
    So verschlief er am nächsten Morgen den Vortrag von Boris Valentinov. Es wurde viel Besuch erwartet; Die Textur der physischen Welt stand seit dem Nobelpreis auf den Bestsellerlisten. Valentinov hatte den Preis ungewöhnlich schnell bekommen, nachdem er in einem kurzen, glänzenden Logarithmus die lange gesuchte Ruhemasse des Neutrinos, des verwirrendsten Teilchens der Welt, bestimmt hatte. Kollegen hatten gegen seine Lösung protestiert, hatten sie heftig angegriffen und waren dabei keinem anderen Widerspruch begegnet als Valentinovs lächelnder Selbstsicherheit. Dann, im Lauf eines halben Jahres, hatten sie einer nach dem anderen zögernd seine Lösung nachgerechnet – es war zu ungewohnt, zu fremdartig – und nachgegeben. Und

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