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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Knall Grauwalds Stimme erstickte. Seine heisere, noch immer redende Stimme.

IX
    Drei Hände. An drei verschiedenen Stellen des Saales. Erhoben vor der feuchten Helligkeit der Fenster sahen sie dunkel, fast wie Knochengerüste aus.
    »Nein«, sagte David, »nicht jetzt. Bitte keine Fragen.«
    Er stützte sich auf den Tisch, beugte sich vor, versuchte, sie nicht anzusehen. Ihre Gesichter machten es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Achtundvierzig Augenpaare (und ein geschlossenes; ein junger Mann in der vorletzten Reihe schlief; er schlief tatsächlich; seine Brust bewegte sich auf und ab, und sein Mund war leicht geöffnet; wann immer Davids Blick ihn streifte, fühlte er eine Regung sinnloser Sympathie), achtundvierzig Kugelschreiber, die sich stockend über das Papier bewegten, die versuchten, seine Worte festzuhalten. Schon wieder drei Hände.
    »Ich muß das erst zu Ende führen«, sagte David. »Die Fragen bitte nachher.« Am Rand der Tischplatte klebte der gehärtete Ball eines ausgespuckten Kaugummis. David unterdrückte den aufsteigenden Ekel und beschloß, nicht mehr hinzusehen, auch dort nicht mehr hinzusehen. Wie immer in seiner Vorlesung bemühte er sich, nicht tief zu atmen: Es roch nach Schweiß und sich vermischendenParfums, nach Arbeit und Langweile, nach einer Versammlung von Körpern, nach Mittag und Trägheit.
    »Können wir«, hörte er sich sagen, »zumindest hypothetisch davon ausgehen, daß die Natur uns täuscht? Sie kennen alle ...« Er warf ihnen einen Blick zu: ihre ratlosen, abwesenden Gesichter, bärtige und rasierte, und die hübschen Studentinnen, die aber nie ganz vorne saßen; einige von ihnen waren kaum jünger als er selbst. Und er wußte, sie kannten es nicht. »Sie kennen alle das Valentinov-Paradoxon. Sie wissen, daß die Natur eines Elektrons sich uns enthüllt, abhängig von der Frage, die wir ihm stellen. Das Experiment, das die Wellennatur belegen soll, belegt die Wellennatur; das Experiment, das die Korpuskelthese stützen soll, stützt die Korpuskelthese. Beides scheint sich auszuschließen, beides existiert nebeneinander. Normalerweise gehen wir davon aus, daß diese Perspektiven vereinbar sein müssen, unter einer dritten, höheren Perspektive, die wir noch nicht kennen. Das ...« Wieder hob sich eine Hand. Er sah es aus dem Augenwinkel und ignorierte es. »... wäre schön! Aber was, so das Valentinov-Paradoxon, wenn es nicht so ist?«
    Noch eine Hand. David drehte sich zum Fenster und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Er sah wieder Grauwald vor sich, sein wütendes Gesicht, seine gebleckten, lächerlich gelben Zähne.
    Ich könnte genausogut, dachte er, nach Hause gehen, das ist ohnehin meine letzte Vorlesung. So oder so. Auf jeden Fall die letzte.
    »Wenn es also«, sagte er in die Richtung des Fensters, »nicht so ist? Wenn die beiden Experimente einander widersprechen, ohne daß irgend etwas uns hilft und den Widerspruch aufhebt? Dann wäre ...« Er wandte sich ihnen zu, allen sechsundneunzig – nein, achtundneunzig, nun war auch der Schläfer wieder wach – Augen. »Dann wäre die Realität ein ziemlich unsicherer Ort. Und wenn es ...« Die Hand hatte sich wieder gesenkt, keiner meldete sich mehr, sie alle sahen ihn bloß an, erstaunt oder ausdruckslos. »Und wenn es eine Truppe, sagen wir von Engeln gibt, oder auch eine Tendenz der Welt, was dasselbe wäre, die Zerstörung der Regeln zu verhindern, die Entdeckung der Fehler, denn ...« Er drehte sich wieder zum Fenster. Auf dem Halbrund des Platzes standen Bänke, saßen Menschen, drängten sich Tauben, erkennbar nur als ein Gewirr grauweißer Flecken. Er räusperte sich. Auch von hier sah man das Hochhaus mit all seinen Spiegeln und seinem zweiten, beunruhigend nach innen gestülpten Himmel. »... denn glauben Sie mir, die Schöpfung enthält Fehler. Gott rechnet, aber ... manchmal rechnet er schlecht.«
    Er sah über seine Schulter: Ihre Gesichter hatten sich verändert. Und die Schreibgeräte hatten ihregleichmäßige Bewegung, von links nach rechts, im Rhythmus seiner Worte, eingestellt; sie lagen jetzt, wo er auch hinblickte, neben den offenen Heften und Blöcken. Ein Gemurmel begann, sie warfen einander Blicke zu, ein blondes Mädchen schüttelte den Kopf, und ausgerechnet der Student, der vorhin geschlafen hatte, grinste breit und bösartig.
    »Doch das ist ein gut gehütetes Geheimnis. Es soll nicht entdeckt werden. Und manchmal scheint es, daß der, der es entdeckt, auf irgendeine Weise, auf eine

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