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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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ist? Eine Ausrede.«
    »Lenie, ich wollte nicht …«
    »Irgendein Scheißkerl fasst dir in der Kita an die Muschi. Und ein anderer rammt dir seinen Schwanz in den Arsch. Na und? Das hat ein paar Blutergüsse zur Folge. Vielleicht blutest du auch ein wenig. Wenn man von der Schaukel fällt und sich den Arm bricht, trägt man viel schlimmere Verletzungen davon. Wie kommt es also, dass sich da keiner über Missbrauch beklagt?«
    In tausend Kilometern Entfernung war Perreault ganz verdattert angesichts der Heftigkeit von Clarkes Ausbruch. »Ich wollte damit nicht sagen … Und außerdem sind die körperlichen Verletzungen nicht alles. Die seelischen Schäden …«
    »Ach, Unsinn. Glauben Sie, wir könnten ein paar Traumata in der Kindheit nicht wegstecken? Wissen Sie, wie viele der höher entwickelten Säugetiere ihre Jungen auffressen? Wir hätten keine zehn Generationen überlebt, wenn ein paar Nasenstüber in unserer Kindheit ausreichen würden, um uns aus dem Rennen zu wer fen.«
    »Lenie …«
    »Glauben Sie, die ganzen Armeen und Banden und Polizisten wären so heiß darauf, uns zu vergewaltigen, wenn wir nicht ein so großes Gewese darum machen würden ? Wenn wir nicht bei der Vorstellung, missbraucht zu werden, anfangen würden zu zittern und weiche Knie bekämen? Scheiß drauf. Ich bin von Ungeheuern angegriffen worden, die direkt aus einem Albtraum hätten stammen können. Ich wurde beinahe gekocht und bei lebendigem Leibe begraben, und das öfter, als ich zählen kann. Ich kenne sämtliche Wege, wie man einen Körper an die Grenze dessen bringen kann, was er auszuhalten imstande ist, und sexueller Missbrauch schafft es nicht einmal unter die ersten zehn.«
    Sie blieb stehen und blickte zu Perreaults Teleoperator hinüber. Perreault zoomte näher heran: Die Rifterin zitterte.
    »Oder können Sie mir da widersprechen? Haben Sie irgendeine eigene Erfahrung gemacht, mit der Sie all Ihre hübschen Plattitüden untermauern könnten?«
    Natürlich habe ich Erfahrungen gemacht. Ich habe zugesehen. Jahrelang habe ich zugesehen und dabei nichts gespürt.
    Das war mein Job …
    Aber das konnte sie natürlich nicht sagen. »Ich … nein. Eigentlich nicht.«
    »Natürlich nicht. Sie sind nur eine verfluchte Touristin, nicht wahr? Sie sitzen sicher und gemütlich irgendwo in einem gläsernen Turm, schauen hin und wieder einmal durch ein Periskop in die wirkliche Welt hinaus und reden sich ein, Sie würden dadurch am Leben teilnehmen, oder irgend so einen Mist. Sie sind erbärm lich.«
    »Lenie …«
    »Hören Sie auf, sich an meinem Schicksal zu weiden.«
    Danach weigerte sie sich zu sprechen. Sie stapfte schweigend in dem schmutzigen Regen die Straße entlang und ließ sich weder von Perreaults Flehen noch von ihren Entschuldigungen erweichen. Der braune Himmel wurde allmählich schwarz. Das sichtbare Licht verschwand, und Infrarot trat an seine Stelle. Lenie Clarke war ein weißglühender, wütender Punkt, der sich unablässig voranbewegte und dabei stets gleich weit entfernt blieb.
    Während der ganzen Zeit sprach sie nur einmal. Die Worte waren kaum mehr als ein Knurren, und Sou-Hon Perreault glaubte nicht, dass sie für ihre Ohren bestimmt waren. Doch die optimierten Sinnesorgane der Fliege scherten sich wenig um Reichweite und noch weniger um Privatsphäre: gefiltert und verstärkt verwandelten sich Clarkes Worte von fernem Rauschen in hässliche, unmissverständliche Wahr heit:
    »Jeder zahlt seinen Preis.«

Visionen
    Es gab zwei Gründe, warum Achilles Desjardins keinen Wert auf Sex mit echten Partnern legte. Der zweite war, dass ihm die Simulationen viel mehr Freiheiten gewährten.
    Sein System war mehr als ausreichend, um die ganze Bandbreite abzudecken. Seine Haut verfügte über die neueste Lorenz-Levitationshaptik. Ihre formlosen Magnetfinger nahmen seine Bewegungen wahr und reagierten darauf. In der Werbung hieß es, man könne spüren, wie einem eine Ameise über den Rücken kriecht. Und das war nicht gelogen. Ein besseres Ergebnis ließ sich nur noch mit einem direkten Neuralinterface erzielen, aber so weit wollte Desjardins nicht gehen. Auch wenn es nicht weithin bekannt war, gab es doch inzwischen Geschöpfe im Mahlstrom, die gelernt hatten, in Wetware einzudringen. Das Letzte, was er brauchte, war irgendein Netzhai, der sein Rückenmark kaperte.
    Es gab auch noch andere Gefahren, wenn man ein Wet Link benutzte – Gefahren, die besonders Leute mit Desjardins Vorlieben betrafen. Manche Menschen weigerten

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