Mahlstrom
Handgelenk geblickt hatte. »Was ist mit Ihrer Armbanduhr passiert?«
»Ich habe sie zerstört.«
»Warum?«
»Ihre Freunde haben herausgefunden, wie man den Ausschaltknopf überbrückt.«
»Sie sind nicht …« Nicht meine Freunde. Sie hatten noch nicht einmal mit ihr Verbindung aufgenommen. Sie wusste nicht, was sie waren.
»Und jetzt haben Sie sich in meinen Visor eingeklinkt. Wenn ich schlau wäre, würde ich mich auch von dem noch trennen.«
»Es sind also noch andere mit Ihnen in Kontakt getreten?« Natürlich – warum sollte Sou-Hon Perreault auch die Einzige auf der Welt sein, die eine Audienz bei der Meltdown Madonna erhielt?
»Ach richtig, das habe ich ja ganz vergessen«, sagte die Meerjungfrau spöttisch. »Sie haben keine Ahnung.«
»Ist es tatsächlich so? Hatten Sie Kontakt zu anderen, die so sind wie ich?«
»Schlimmer noch«, sagte Clarke und ging weiter.
Du darfst sie nicht drängen.
Ein Wäldchen skelettartiger Birken trennte sie für ein paar Minuten voneinander. Die Kamera backbordseits erhaschte Bruchstücke von Lenie Clarke, zerschnitten von einem Durcheinander vertikaler weißer Striche.
»Ich habe mich in den Mahlstrom eingeloggt«, sagte sie. »Die Leute … reden über mich.«
»Ja. Ich weiß.«
»Glauben Sie daran? Das Zeug, das dort über mich erzählt wird?«
Perreault versuchte es mit einem ironischen Tonfall, da sie selbst nicht so recht davon überzeugt war: »Sie tragen also nicht das Ende der Welt in sich?«
»Wenn es so ist«, sagte Clarke, »dann taucht es jedenfalls im Bluttest nicht auf.«
»Das meiste, was man im Mahlstrom liest, kann man sowieso nicht glauben«, sagte Perreault. »Die eine Hälfte widerspricht der anderen Hälfte.«
»Das ist einfach nur verrückt. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist.« Ein paar Sekunden herrschte Stille. Dann fuhr sie fort: »Letztens habe ich jemanden gesehen, der genauso aussah wie ich.«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Sie haben eine Menge Freunde.«
»Nein. Es geht hier nicht um mich. Da ist etwas im Netz. Aus irgendeinem Grund hat es … meinen Namen gestohlen.«
Piep.
Plötzlich leuchtete ein Rechteck auf, das eine flackernde Bewegung einrahmte. Die Kamera am Heck zoomte automatisch näher.
»Moment mal«, sagte Perreault. »Ich habe da … Lenie.«
»Was ist?«
»Sie sollten lieber die Straße verlassen. Ich glaube, es ist dieser Psychopath aus dem Schutzbunker.«
Er war es tatsächlich. Über den Lenker eines uralten Mountainbikes gebeugt tauchte er im Zoomfenster auf wie eine verschwommene Albtraumgestalt. Er radelte mit voller Geschwindigkeit voran, das Gewicht auf die Pedale gestützt. Das Gefährt besaß keinen Sattel. Es hatte auch keine Reifen, sondern ratterte auf den blanken Felgen über die Straße. Ein Skelett, das von einem Ungeheuer gefahren wurde. Die Jacke des Ungeheuers war dunkel und feucht, und ihr fehlte ein Ärmel. Es war nicht dieselbe, die der Mann vorhin getragen hatte.
Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet und schaute nur einmal über die Schulter nach hinten. Schließlich verschwand er in der Ferne.
»Lenie?«
»Ich bin hier.« Sie erhob sich aus einem Entwässerungsgraben.
»Er ist weg«, sagte Perreault. »Was man so alles sieht, wenn man seine Waffe nicht dabei hat. Dieses Arschloch.«
»Er ist nicht schlimmer als die anderen dort.« Clarke stieg wieder zur Straße hoch.
»Abgesehen von der Tatsache, dass er jemanden totgeschlagen hat.«
»Und hundert Leute standen drum herum und haben zugeschaut. Oder ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
»Nun …«
»Die Leute sind so, wissen Sie. Die stehen einfach nur rum und tun nichts. Sie sind verdammt noch mal mitschuldig. Sie sind nicht besser als … sie sind sogar noch schlimmer. Zumindest hat er ein wenig Initiative gezeigt.«
»Mir ist nicht aufgefallen, dass Sie sich ihm in den Weg gestellt hätten«, fauchte Perreault und bedauerte augenblicklich ihre eigene Abwehrhaltung.
Clarke drehte sich zu der Mechfliege um, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile ging sie weiter.
»Sie sind nicht alle … mitschuldig, Lenie«, sagte Perreault etwas sanfter. »Die Menschen wollen etwas tun, sie … sie haben nur einfach Angst. Und die Erfahrung lehrt einen, dass es manchmal besser ist, wenn man sich aus allem heraushält …«
»Oh ja, wir sind alle Opfer unserer Vergangenheit. Kommen Sie mir bloß nicht mit dem Kram.«
»Was für ein Kram?«
»Den vom armen, kleinen Missbrauchsopfer. Wissen Sie, was Missbrauch wirklich
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