Mahlstrom
nicht Bescheid?«
»Oh doch. Sie haben es beinahe sofort erkannt. Sie hatten sogar schon Entwarnungen herausgeschickt, als ich sie angerufen habe.«
Desjardins betrachtete die schematische Darstellung. An der Peripherie leuchteten immer noch kleine Punkte auf.
»Soweit ich sehe, werden immer noch Warnsignale ausgelöst«, sagte er. »Kannst du bitte noch einmal nachschauen?« Sie konnten die Quarantäne jederzeit durch eine Meldung in den Medien außer Kraft setzen – sie konnten sogar herumtelefonieren, wenn es sein musste –, aber das würde Stunden dauern, und in der Zwischenzeit wären Dutzende, Hunderte Einrichtungen lahmgelegt. Cinci hatte bereits Gegendarstellungen hinausgeschickt, um die Warnmeldungen zu entkräften. Warum wurde die Mitte von Desjardins' schematischer Darstellung dann nicht grün von den erfolgreichen Abbrüchen?
»Sie haben sie rausgeschickt«, bestätigte Jovellanos kurz darauf. »Die Warnsignale reagieren nur einfach nicht darauf. Meinst du, es könnte …«
»Moment mal.« Auf der schematischen Darstellung war gerade ein Stern verschwunden. Dann ein weiterer. Und dann noch drei. Zwanzig. Hundert.
Nur weiße Sterne waren betroffen. Und sie befanden sich allesamt an der Peripherie.
»Wir verlieren Warnsignale.« Er zoomte die Knotenpunkte heran, wo die Lichter ausgegangen waren. »Aber weit draußen am Rand. Nicht in der Nähe des Zentrums.« So schnell konnten sich die Entwarnungen noch nicht so weit verbreitet haben. Desjardins fuhr die Filter herunter; jetzt sah er mehr als nur die einzelnen Warnsignale und die kleinen Programme, die ausgeschickt wurden, um sie abzuschalten. Er sah Datenpakete und Programme. Er konnte die Internetfauna sehen. Er konnte sehen …
»Wir haben Haie«, sagte er. »Fressorgie bei PSK-1433. Und sie verbreitet sich weiter.«
Arpanet.
Internet.
Das Netz. Damals, als es nur eines davon gab, war das noch keine so anmaßende Bezeichnung gewesen.
Der Begriff Cyberspace hatte sich etwas länger gehalten – doch das Wort Space klingt nach gewaltigen, leeren Weiten, nach einer leuchtenden Galaxis aus Icons und Avataren, einer halluzinogenen Traumwelt in 48-Bit-Farbe. Der Begriff Cyberspace ließ nicht unbedingt an einen Fleischwolf denken. Und auch nicht an Seuchen oder Raubtiere, Geschöpfe, deren Lebensspanne Bruchteile von Sekunden umfasste und die sich unablässig gegenseitig die Kehlen herausrissen. Als Achilles Desjardins die Bühne betreten hatte, war Cyberspace ein von Wehmut erfülltes Fantasiewort gewesen, ähnlich wie Hobbit oder Biodiversität .
Zwiebel oder Metabase waren modernere Wortschöpfungen. Neue Schichten lagerten sich ständig über den alten an, frei von dem Gedränge und dem weißen Rauschen, von denen ihre Vorgänger erfüllt waren – zumindest eine Zeit lang. Mit jeder Generation wuchsen die Größenordnungen immer weiter an: höhere Geschwindigkeit, mehr Speicherplatz, mehr Leistungskraft. Informationen jagten Leitungen aus Glasfaserkabeln, Rotasan oder Quantenstoff entlang, der so elementar war, dass seine bloße Existenz infrage gestellt wurde. Mit jedem Jahrzehnt hatte die Bestie ein neues Rückgrat erhalten; dann geschah es bald alle paar Jahre. Und schließlich alle paar Monate. Der endlose Anstieg von Leistungskraft und Wirtschaftlichkeit setzte sich parallel dazu fort, nicht so rasant wie in den legendären Zeiten Moores, aber immer noch rasant genug.
Und im Kielwasser folgten Gesetze, die noch viel älter waren als das Moore'sche und die mit der sich immer weiter verschiebenden Grenze Schritt hielten.
Nur das Muster zählt. Nicht das Baumaterial. Leben besteht aus Information, die durch natürliche Auslese geformt wird. Kohlenstoff ist nur eine Modeerscheinung, Nukleinsäuren sind beliebige Accessoires. Elektronen können ihre Funktion übernehmen, wenn sie auf die richtige Weise programmiert sind.
Es sind alles nur Muster.
Und so zeugten die Viren die Filter und diese wiederum zeugten polymorphe Abwehrmittel, die ihrerseits den Startschuss zu einem wahren Wettrüsten gaben. Ganz zu schweigen von den Würmern und den Mechs und den zielstrebigen, autonomen Datenhunden – die für jede Form des legalen Warenaustauschs unverzichtbar waren und entscheidend für das Wohl einer jeden Einrichtung, doch zugleich auch unfassbar gierig und versessen darauf, sich Zutritt zu geschützten Datenspeichern zu verschaffen. Und ihnen gegenüber standen die Freaks, die künstliches Leben schaffen wollten, mit ihren Core-Wars und
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