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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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sagte Clarke. Seit wann war eine Persönlichkeit zu einer »therapierbaren Störung« geworden?
    »Ihre Dopaminrezeptoren sind ungewöhnlich rege. Verwenden Sie im Durchschnitt öfter als zweimal pro Woche Opioide oder Endorphin-Verstärker?«
    »Hör zu, vergiss das alles. Konzentrier dich auf die Halluzinationen.«
    Die Zelle verstummte. Clarke schloss die Augen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Eine verdammte Maschine, die meine Masochismus-Moleküle zählt …
    Piep.
    Clarke öffnete die Augen. Auf der Anzeige war ein Schleier aus violetten Sternen zu sehen, die über ihre beiden Gehirnhälften verteilt waren. Irgendwo in der Mitte pulsierte ein winziger roter Punkt.
    Das Wort Anomalie blinkte in einer Ecke des Bildschirms auf.
    »Was? Was ist los?«
    »Vorgang ist noch nicht abgeschlossen. Bitte haben Sie noch etwas Geduld.«
    Eine Linie erschien in der unteren Hälfte der Anzeige: MG-Areal 19 , stand dort.
    Ein weiterer Piepton. Ein weiterer pulsierender roter Punkt, etwas abseits des ersten.
    Wieder tauchte eine Linie auf: Brodmann-Areal 37.
    »Was bedeuten diese roten Punkte?«, fragte Clarke.
    »Diese Teile des Gehirns sind für den Sehprozess zuständig«, erklärte die Medzelle. »Darf ich das Visier des Helms herabsenken, um Ihre Augen zu untersuchen?«
    »Ich trage Augenkappen.«
    »Ein Hornhautüberzug hat keinen Einfluss auf den Scan. Darf ich fortfahren?«
    »Okay.«
    Das Visier glitt herab. Seine Innenfläche war mit einem Gitter aus winzigen Erhebungen überzogen. Das Summen der Maschine vibrierte tief in ihrem Schädel. Clarke begann im Geist zu zählen. Zweiundzwanzig Sekunden dauerte es, bis das Visier wieder in seiner Scheide verschwand.
    Unter der Bezeichnung Brodmann-Areal 37 tauchte das Kürzel Ret/Mak OK auf.
    Das Summen hörte auf.
    »Sie können den Helm jetzt abnehmen«, wies die Medzelle sie an. »Was ist Ihr chronologisches Alter?«
    »Zweiunddreißig.« Sie hängte den Helm wieder an seinen Haken zurück.
    »Hat sich Ihre visuelle Umgebung in den letzten acht bis sechzehn Wochen grundlegend verändert?«
    Ein Jahr im lichtverstärkten Zwielicht der Channer-Quelle. Das blinde Vorantasten über den Grund des Pazifiks. Und dann auf einmal klarer Himmel …
    »Ja. Vielleicht.«
    »Hat es in Ihrer Familie Schlaganfälle oder Embolien gegeben?«
    »Ich … das weiß ich nicht.«
    »Ist in letzter Zeit jemand gestorben, der Ihnen nahestand?«
    »Wie bitte?«
    »Ist in letzter Zeit jemand gestorben, der Ihnen nahestand?«
    Sie biss die Zähne zusammen. »In letzter Zeit sind sämtliche Menschen, die mir nahestanden, gestorben.«
    »Sind Sie in den letzten zwei Monaten Veränderungen des Umgebungsdrucks ausgesetzt gewesen? Haben Sie sich zum Beispiel in einer Orbitaleinrichtung oder einem Flugzeug ohne Druckausgleich aufgehalten oder sind tiefer als zwanzig Meter getaucht?«
    »Ja. Ich bin getaucht.«
    »Haben Sie sich während des Tauchens einer Dekompression unterzogen?«
    »Nein.«
    »Was war Ihre maximale Tauchtiefe, und wie lange haben Sie sich dort aufgehalten?«
    Clarke lächelte. »Dreitausendvierhundert Meter. Ein Jahr.«
    Die Zelle schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Den direkten Aufstieg aus einer solchen Tiefe kann ein Mensch ohne Dekompression nicht überleben. Was war Ihre maximale Tauchtiefe, und wie lange haben Sie sich dort aufgehalten?«
    »Ich musste mich nicht dekomprimieren«, erklärte Clarke. »Ich habe während des Tauchens nicht geatmet, alles war elekt …«
    Moment mal …
    Keine Dekompression, hatte sie gesagt.
    Natürlich nicht. Sollten doch die Touristen, die nur in geringen Tiefen tauchten, aus ihren klobigen Tauchflaschen atmen und eine Stickstoffnarkose oder die Taucherkrankheit riskieren, wenn sie sich zu weit von der Oberfläche entfernten. Sollten sie ruhig Albträume haben von explodierenden Lungen und von Augen, die sich verfärbten und in Ansammlungen fleischiger Blasen verwandelten. Die Rifter mussten sich um solche Dinge nicht kümmern. Im Innern der Station Beebe hatte Lenie Clarke bei Normalnull geatmet; draußen hatte sie gar nicht geatmet.
    Außer einmal, als sie vom Himmel abgeschossen worden war.
    Damals war die Forcipiger langsam durch ein dunkles Spektrum hinabgesunken, von grün zu blau und schließlich zu lichtlosem Schwarz, während die Atmosphäre durch tausend Risse aus dem Tauchboot entwichen war. Mit jedem Meter war mehr vom Ozean eingedrungen und hatte die Atmosphäre im Tauchboot zu einer Blase zusammengequetscht, in der ein hoher

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