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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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können?«, fragte die Medzelle nach einer Weile.
    Clarke schluckte. »Wann … wann sind diese Läsionen entstanden?«
    »Vor etwa zehn bis sechsunddreißig Monaten, je nachdem, wie hoch Ihr durchschnittlicher Grundumsatz seit dem Eingriff gewesen ist. Dies ist eine Schätzung auf Grundlage der Narbenbildung nach der Operation und dem Wachstum der Kapillaren.«
    »Könnte eine solche Operation durchgeführt werden, ohne dass der Patient davon weiß?«
    Eine kurze Pause. »Ich weiß nicht, wie ich diese Frage beantworten soll.«
    »Könnte sie ohne Betäubung stattfinden?«
    »Ja.«
    »Könnte sie durchgeführt werden, während der Patient schläft?«
    »Ja.«
    »Würde der Patient spüren, wie sich die Läsionen bilden?«
    »Nein.«
    »Könnte die für eine solche Prozedur nötige Ausrüstung, sagen wir, in einem NMR-Helm untergebracht werden?«
    »Das weiß ich nicht«, gab die Medzelle zu.
    In Beebes Krankenstation hatte es einen NMR-Helm gegeben. Sie hatte ihn gelegentlich benutzt, wenn sie sich während des Kampfes gegen die wilden Tiere an der Channer-Quelle den Kopf gestoßen hatte. Damals waren auf den Ausdrucken keine Läsionen aufgetaucht. Vielleicht wurden sie bei den Standardeinstellungen, die sie benutzt hatte, nicht angezeigt. Womöglich musste man erst eine bestimmte Untersuchung durchführen oder etwas in der Art.
    Oder vielleicht hatte jemand auch den Scanner der Station darauf programmiert zu lügen.
    Wann ist es passiert? Was ist geschehen? Was ist es, woran ich mich nicht mehr erinnern kann?
    Sie war sich vage gedämpfter, wütender Geräusche bewusst, die von irgendwo draußen kamen. Sie spielten keine Rolle, sie ergaben keinen Sinn. Nichts ergab mehr einen Sinn. Vor ihr rotierte leuchtend und transparent ihr Gehirn. Violette Sterne brachen wie eine in Zeitlupe erstarrte Fontäne aus dem Rückenmark hervor. Vollkommene, helle Tropfen, die in die Großhirnrinde hinaufgeschleudert wurden und auf dem Gipfelpunkt stehen geblieben waren. Helle Gedanken. Erinnerungen, die amputiert und kauterisiert worden waren. Sie sahen beinahe aus wie eine abstrakte Skulptur.
    Lügen konnten wahrhaft schön sein.

Lockvögel
    Nach Aviva Lus Ansicht hatte derjenige gewonnen, der als letzter starb.
    Was man mit seinem Leben machte, zählte eigentlich nicht. Da Vinci, Plasmid oder lan Anderson hatten in ihrem Leben Tonnen mehr geleistet, als Vive oder ihre Freundinnen es jemals schaffen konnten. Sie würde niemals den Mars erforschen oder eine Symphonie komponieren oder auch nur ein Tier konstruieren – jedenfalls nicht von Grund auf. Aber diese Menschen waren schon lange tot . Olivia M'Bengas Ruhm hatte nicht verhindern können, dass die Sichtscheibe ihres Anzugs zersprungen war. Andrew Simons Anschuldigungen gegen Hydro-Q hatten seine Lebenserwartung nicht um einen einzigen Tag erhöht. Das Passionsspiel mochte unsterblich sein, aber sein Komponist war schon vor Jahrzehnten zu Staub zerfal len.
    Aviva Lu wusste mehr über das Was bisher geschah als all diese Leute.
    Die Geschichte war ein großes, dickes, interaktives Bilderbuch. Es hatte einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Wenn man erst nach der Hälfte darin einstieg, konnte man alles, was man verpasst hatte, jederzeit nachholen. Dafür waren die Seminare und Enzyklopädien und der Mahlstrom selbst da. Man konnte sich einen kurzen Überblick über die Geschichte des Lebens verschaffen, bis in die Zeit zurück, als die Marsmikrobe vom Himmel gefallen war und die ganze Entwicklung in Gang gesetzt hatte. Wenn man allerdings tot war, dann war alles vorbei. Man würde nie erfahren, was als Nächstes geschah. Deshalb war Vive der Ansicht, dass die wahren Gewinner diejenigen waren, die das Ende der Geschichte erlebten.
    Davon abgesehen, war sie trotzdem wenig begeistert, als ihr klar wurde, dass sie es wahrscheinlich bis ins Finale geschafft hatte.
    So viel war offensichtlich gewesen, noch bevor sich diese Feuerhexe ihren Weg über den Kontinent gebrannt hatte. Sie hatte gehört, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, als man einfach so das Haus verlassen und irgendwohin gehen konnte, ohne dass ständig überall bescheuerte Absperrungen hochgezogen oder wieder abgerissen wurden – was selbst das Überqueren einer Straße in eine Art Lotteriespiel verwandelte. Es hatte eine Zeit gegeben, als man Krankheiten und Parasiten noch selbst abwehren konnte, mit dem körpereigenen Immunsystem, ohne sich eine genetische Anpassung von irgendeiner Pharmafirma beschaffen zu

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