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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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sich jedoch allesamt im Umkreis von vierzig oder fünfzig Knotenpunkten zum Keimsucher des CinciGen befanden, die häusliche Gewalt und die Selbstmordrate ansteigen. Desjardins wusste, was ein Kaskadeneffekt war; er löste jeden Tag bei der Arbeit welche aus. Wen würde das nicht nach einer Weile in den Wahnsinn treiben?
    Zum Glück gab es auch dafür Psychopharmaka.

Rückblende
    Als sie erwachte, sah sie einen fliegenden ßehemoth mit Trümmern im Maul vor sich in der Luft. Er nahm die Hälfte des Himmels ein.
    Kräne. Armaturen. Zupackende, alles zerfetzende Kiefer, die eine ganze Stadt auseinanderreißen konnten. Ein Arsenal der Vernichtung, das von einer riesigen Blase aus hartem Vakuum herabhing; die Haut zwischen den Rippen wurde nach innen gesaugt, wie das Fleisch eines Geschöpfs, das kurz vor dem Verhungern stand.
    Majestätisch flog es vorbei, ohne auf das Insekt zu achten, das in seinem Schatten einen Schrei ausstieß.
    »Das ist nichts weiter, Ms. Clarke«, sagte jemand. »Es kümmert sich nicht um uns.«
    Englisch mit einem hindischen Akzent. Und im Hintergrund leise gemurmelte Worte in anderen Sprachen. Ein schwaches elektrisches Summen. Das stete Tropf-Tropf-Tropf eines Feldentsalzers.
    Ein eingefallenes, dunkelhäutiges Gesicht, das in mittleren Jahren sein mochte oder so alt wie Methusalem, beugte sich in ihr Blickfeld. Clarke drehte den Kopf. Andere, besser genährte Flüchtlinge standen in einem unregelmäßigen Kreis um sie herum. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie vage mechanische Gebilde.
    Tageslicht. Sie musste das Bewusstsein verloren haben. Sie erinnerte sich noch, dass sie sich spät nachts am Cycler den Bauch vollgeschlagen hatte. Und dass der prekäre Waffenstillstand in ihrem Magen irgendwann zusammengebrochen war. Sie erinnerte sich, wie sie zu Boden gestürzt war und eine saure Brühe in den frischen Sand erbrochen hatte.
    Und nun war Tag, und sie war umzingelt. Sie hatten sie nicht getötet. Irgendjemand hatte ihr sogar ihre Schwimmflossen gebracht; sie lagen auf einem Felsbrocken neben ihr.
    »… tupu jicho …« , flüsterte jemand.
    »Ach ja …« – ihre Stimme klang eingerostet, weil sie sie so lange nicht benutzt hatte – »… meine Augen. Kein Grund zur Sorge, das sind nur …«
    Der Hinder streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus. Sie rollte sich mit letzter Kraft zur Seite und bekam einen Hustenanfall. Ein Presskolben tauchte neben ihr auf. Sie winkte ihn fort. »Ich habe keinen Durst.«
    »Sie kommen aus dem Meer. Sie können das Meer nicht trinken.«
    »Ich schon. Ich habe …« Sie richtete sich mühsam auf die Ellbogen auf und drehte den Kopf, bis sie den Entsalzer sehen konnte. »Ich habe eines von diesen Geräten in meiner Brust. Ein Implantat. Verstehen Sie?«
    Der magere Flüchtling nickte. »Wie Ihre Augen. Mechanisch.«
    Das traf es fast. Sie war zu erschöpft, um es genauer zu erklären.
    Sie blickte auf das Meer hinaus. Die Umrisse des Lifters waren in der Ferne kaum noch auszumachen, er hatte sich in eine Silhouette mit vage zu erkennenden Fortsätzen verwandelt. In diesem Moment fielen Trümmer aus seinem Bauch, und am Horizont stieg geräuschlos eine graue Rauchfahne auf.
    »Sie machen sauber, wie immer«, stellte der Hinder fest. »Wir haben Glück, dass sie den Müll nicht über uns auskippen, nicht wahr?«
    Clarke unterdrückte einen weiteren Hustenanfall. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    »NB Clarke.« Er tippte gegen das Schild an ihrer Schulter. »Ich bin übrigens Amitav.«
    Seine Hand, sein Gesicht – beides so dürr wie von einem Skelett. Und doch arbeiteten die Calvin-Cycler unermüdlich. Es sollte genug für alle da sein, hier in der Zone. Die Gesichter um sie herum waren lediglich abgemagert, sie sahen nicht verhungert aus. Nicht wie dieser Amitav, Ein fernes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, ein leises Heulen, das von weit oben kam. Clarke richtete sich auf. Der Schatten einer Bewegung flackerte zwischen den Wolken auf.
    »Die da beobachten uns natürlich«, sagte Amitav.
    »Wer?«
    »Ihre Leute, nicht wahr? Sie sorgen dafür, dass die Maschinen funktionieren, und sie beobachten uns. Seit der Welle noch mehr als früher.«
    Der Schatten flog in Richtung Süden weiter und verschwand.
    Der knochige Amitav ging wieder in die Hocke und blickte landeinwärts. »Natürlich gibt es eigentlich keinen Grund dafür. Wir sind hier nicht unbedingt das, was man Aktivisten nennen würde. Aber sie beobachten uns trotzdem.« Er richtete sich auf und

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