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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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finden Sie ja eine Tür oder eine alte Armbanduhr. Vielleicht haben die dort ja kleine Kummerkästen aufgehängt, damit Sie ihnen eine Nachricht hinterlassen können, was?«
    »Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich könnte Ihre Leute nicht auf mich aufmerksam machen.«
    »Ich bezweifle, dass Sie das wirklich wollen. Sie haben Ihre eigenen Geheimnisse.«
    »Ich bin ein Flüchtling. Wir können es uns nicht leisten, Geheimnisse zu haben.«
    »Tatsächlich? Warum sind Sie so mager, Amitav?«
    Seine Augen weiteten sich.
    »Bandwurm? Essstörung?« Sie machte einen Schritt nach vorn. »Oder bekommt Ihnen das Essen aus den Cyclern nicht?«
    »Ich hasse Sie«, zischte er.
    »Sie kennen mich nicht einmal.«
    »Ich kenne Sie«, fauchte er. »Ich kenne Ihre Leute. Ich weiß …«
    »Sie wissen gar nichts. Wenn Sie etwas wüssten – wenn Sie sich wirklich so sehr für meine Leute , wie Sie sie nennen, interessieren würden –, würden Sie sich ein Bein ausreißen, um mir zu helfen.«
    Er starrte sie an, Unsicherheit flackerte in seinem Gesicht auf.
    Sie bemühte sich, leise zu sprechen. »Nehmen wir einmal an, Sie haben recht, Amitav. Nehmen wir an, ich bin wirklich den ganzen Weg von der Tiefsee heraufgekommen. Womöglich sogar vom Axialvulkan, wenn Sie wissen, wo das ist.«
    Sie wartete. »Sprechen Sie weiter«, sagte er.
    »Nehmen wir auch einmal rein hypothetisch an, dass das Erdbeben kein Zufall war. Jemand hat über dem Meeresboden eine Atombombe gezündet, und die Erschütterungen haben sich bis zur Küste fortgesetzt.«
    »Warum sollte irgendjemand so etwas tun?«
    »Das ist deren Geheimnis. Das wir lüften müssen.«
    Amitav schwieg.
    »Können Sie mir so weit folgen? Eine Bombe explodiert in der Tiefsee. Ich komme aus der Tiefsee. Zu was macht mich das, Amitav? Bin ich hier etwa der Bösewicht? Habe ich auf den Knopf gedrückt, und wenn ja, hätte ich mir dann nicht wenigstens einen besseren Fluchtweg überlegt, als durch dreihundert Kilometer verfluchten Schlamm zu schwimmen, ohne ein einziges verfluchtes Butterbrot, nur um nach einer verfluchten Woche in dieser verfluchten Zone an Land zu gehen und mir Ihr verfluchtes Gejammer anhören zu müssen? Ergibt das irgendeinen Sinn? Oder …« Ruhiger und beherrschter sprach sie weiter. »Bin ich nicht vielmehr genauso verarscht worden wie alle anderen? Nur dass es mir gelungen ist, mit dem Leben davonzukommen? Meinen Sie nicht auch, dass das ausreicht, um selbst einer reichen weißen N'AmPaz-Schlampe wie mir die Laune zu verderben?«
    Und irgendjemand wird dafür bezahlen , schwor sie sich.
    Amitav sagte nichts. Er betrachtete sie mit seinen tief liegenden Augen; sein Gesicht wirkte wieder vollkommen ausdruckslos und unergründlich.
    Clarke seufzte. »Wollen Sie sich wirklich mit mir anlegen, Amitav? Wollen Sie sich mit den Leuten anlegen, die in Wahrheit den Knopf gedrückt haben? Die fackeln nicht lange, wenn es darum geht, ihre Fehler zu beseitigen. Im Augenblick halten sie mich für tot. Wollen Sie tatsächlich in meiner Nähe sein, wenn die herausfinden, dass ich es doch nicht bin?«
    »Und was genau haben Sie an sich«, fragte Amitav schließlich, »dass dagegen das Leben aller anderen Menschen so bedeutungslos erscheint?«
    Sie hatte lange darüber nachgedacht. Und war dabei zu einem ganz besonderen Augenblick in ihrer Kindheit zurückgekehrt. Damals hatte sie zu ihrem Erstaunen erfahren, dass es auf dem Mond Leben gab: mikroskopisch kleines Leben, irgendeine Art Bakterium, das mit den ersten unbemannten Sonden mitgeflogen war. Es hatte Jahre des Hungerns im Vakuum überlebt, tiefgefroren und gekocht und dem unaufhörlichen Prasseln harter Strahlung ausgesetzt.
    Sie hatte gelernt, dass das Leben alles überstehen konnte. Damals hatte diese Erkenntnis Anlass zur Hoffnung geboten.
    »Ich glaube, ich trage vielleicht etwas in mir«, sagte sie. »Ich glaube …«
    Etwas berührte ihr Bein.
    Reflexartig zuckte ihr Arm vor. Ihre Faust schloss sich um das Handgelenk eines kleinen Jungen.
    Er hatte es auf den Gasknüppel an ihrer Wade abgesehen gehabt.
    »Ah«, sagte Clarke. »Natürlich.«
    Starr vor Schreck blickte der Junge sie an.
    Sie wandte sich wieder Amitav zu, während sich das Kind wimmernd in ihrem Griff wand. »Ist das ein Freund von Ihnen?«
    »Ich, äh …«
    »Ein kleines Ablenkungsmanöver vielleicht? Sie trauen sich wohl nicht selbst an mich heran, und von Ihren erwachsenen Kumpels wollte Ihnen keiner helfen, also mussten Sie ein Kind dazu überreden?«

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