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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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waren ihre Sensoren auch nicht ganz so empfindlich, wie sie ursprünglich befürchtet hatte. Vielleicht konnten sie ihre Implantate einfach nicht sehen. Womöglich war ihre Aura zu schwach oder zu weit entfernt. Oder die Mechfliegen konnten doch nicht so tief ins Spektrum der elektromagnetischen Strahlung blicken, wie sie angenommen hatte.
    Beim ersten Mal war ich ganz allein , dachte sie. Der gesamte Strand war abgeriegelt. Das muss es gewesen sein. Sie reagieren auf Eindringlinge …
    Amitav tat das offenbar auch. Und das wurde zunehmend zum Problem.
     
    Am nächsten Morgen tauchte er mit einer toten Mechfliege in den Armen am Cycler auf. Sie sah ein wenig wie ein Schildkrötenpanzer aus, den Clarke einmal in einem Museum gesehen hatte, abgesehen von den Lüftungsöffnungen und den Instrumenten, die die Oberfläche des Bauches überzogen. Sie war an der Mittelnaht aufgerissen, die Ränder des Risses waren rußgeschwärzt.
    »Können Sie das reparieren?«, fragte Amitav. »Irgendetwas davon?«
    Clarke schüttelte den Kopf. »Mit Mechfliegen kenne ich mich nicht aus.« Sie nahm den Panzer trotzdem in die Hand. In seinem Innern befand sich verschmorte Elektronik unter einer Schicht Ruß.
    Mit dem Daumen strich sie über eine kleine, raue Ausbuchtung und spürte das Linsensystem eines Sichtgeräts unter dem Schmutz. Ein Teil der Elektronik kam ihr vage vertraut vor, aber …
    »Nein«, sagte sie und legte das Gerät in den Sand. »Tut mir leid.«
    Amitav zuckte die Achseln und ließ sich im Schneidersitz nieder. »Das habe ich auch nicht erwartet«, sagte er. »Aber man kann schließlich immer hoffen, und Sie scheinen mit Maschinen so vertraut zu sein …«
    Sie lächelte schwach und war sich dabei der Implantate in ihrem Brustkorb nur allzu bewusst.
    »Ich nehme an, Sie werden wohl zum Zaun gehen«, sagte Amitav nach einer Weile. »Ihre Leute werden Sie durchlassen, wenn sie sehen, dass Sie zu ihnen gehören.«
    Sie blickte in Richtung Osten. In der Ferne erhoben sich die Grenztürme aus einem Dunst von Menschenleibern und niedergetrampeltem Gestrüpp. Sie hatte von den Hochspannungsleitungen und dem Stacheldraht gehört, die zwischen ihnen gespannt waren. Sie hatte auch andere Dinge gehört, über Flüchtlinge, die so verzweifelt waren, dass sie sieben oder acht Meter hochgeklettert waren, ehe sie der Strom und die Wunden, die der Stacheldraht ihnen zugefügt hatte, umgebracht hatten. Ihre aufgeschlitzten Überreste wurden an den Zäunen hängen gelassen, hieß es – ob als Abschreckungsmaßnahme oder einfach aus Nachlässigkeit, war nicht ganz klar.
    Clarke wusste, dass das alles nur Märchen waren. An solchen Unsinn glaubten nur Kinder, und trotz ihrer großen Anzahl schienen die Menschen hier nicht einmal motiviert genug, um einen Flohmarkt zu organisieren, geschweige denn, auf die Barrikaden zu gehen. Wie lautete das Wort, das Amitav benutzt hatte?
    Fügsam.
    In gewisser Weise war es schade. Sie war noch nie bei den Zäunen gewesen. Es wäre interessant gewesen, sie auszukundschaften.
    Aber zu sterben brachte eine Menge Nachteile mit sich.
    »Sie haben doch sicher ein Zuhause, zu dem Sie zurückkehren können. Sie wollen doch bestimmt nicht hier bleiben«, bohrte Amitav nach.
    »Nein«, antwortete sie auf beide Fragen.
    Er wartete. Sie wartete mit ihm.
    Schließlich stand er auf und warf einen Blick auf die tote Mechfliege. »Ich weiß nicht, warum sie abgestürzt ist. Normalerweise funktionieren sie eigentlich ganz gut. Sie haben sicher schon ein paar davon vorbeifliegen sehen, oder? Ihre Augen mögen zwar leer sein, aber Sie sind nicht blind.«
    Clarke erwiderte seinen Blick, ohne etwas zu sagen.
    Er stieß mit dem Zeh gegen das kleine Wrack. »Die hier sind es auch nicht«, sagte er schließlich und ging davon.
     
    Es war ein Loch in der Dunkelheit: ein Fenster in eine andere Welt. Es befand sich auf Augenhöhe eines Kindes, und es führte in eine Küche, die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte.
    Und zu einem Menschen, dem sie ebenso lange nicht mehr begegnet war.
    Ihr Vater kniete vor ihr, hatte sich zu ihr herabgebeugt, um ihr in die Augen blicken zu können. Sein Gesicht wirkte ernst. Mit einer Hand ergriff er ihr Handgelenk, während von der anderen etwas herabbaumelte.
    Sie wartete darauf, dass die vertraute Übelkeit in ihrer Kehle aufstieg, doch sie blieb aus. Der Blickwinkel war der eines Kindes, aber die Betrachterin war eine Erwachsene, abgehärtet, angepasst und an Strapazen

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