Mahlstrom
gewöhnt, gegen die Kindesmissbrauch höchstens noch wie ein banales Klischee wirkte.
Sie versuchte sich umzuschauen, doch ihr Blickfeld blieb stets gleich. Ihre Mutter war nicht zu sehen.
Wie immer.
Der Mund ihres Vaters bewegte sich, aber es waren keine Worte zu hören. Das Bild war vollkommen still, ein grelles Lichtspiel ohne Ton.
Das ist nur an Traum. Ein langweiliger Traum. Zeit, aufzuwachen.
Sie öffnete die Augen. Doch der Traum verschwand nicht.
Jetzt hatte er jedoch einen anderen Hintergrund, ein Puzzle aus verstärktem Licht und Schatten. Jemand stand vor ihr im Sand, doch sein Gesicht wurde von der Vision aus ihrer Kindheit verdeckt. Sie schwebte vor ihr, wie ein Bild in einem Bild. Von hinten schimmerte schwach die Gegenwart hindurch.
Sie schloss die Augen. Die Gegenwart verschwand. Die Vergangenheit jedoch blieb.
Verschwinde! Ich bin fertig mit dir. Geh weg!
Ihr Vater hielt immer noch ihr Handgelenk umklammert – oder jedenfalls das Handgelenk des zerbrechlichen Geschöpfs, durch dessen Augen sie blickte –, doch sie spürte nichts. Und jetzt richteten sich diese Augen ohne ihr Zutun auf das Ding, das von der anderen Hand ihres Vaters herabhing. Plötzlich verängstigt, öffnete sie ihre eigenen Augen, bevor sie sehen konnte, was es war. Doch wieder folgte ihr das Bild in die wirkliche Welt.
Hier, vor dem Hintergrund der riesigen, mittellosen Horde der Zonenbewohner, stand ihr Vater und hielt Lenie Clarke ein Geschenk hin. Ihre erste Armbanduhr.
Bitte, geh weg …
»Nein«, sagte eine Stimme in ihrer Nähe. »Ich bin es nicht.«
Amitavs Stimme. Lenie Clarke stand wie versteinert da und gab ein leises Wimmern von sich.
Ihr Vater erklärte ihr nun die Funktionen ihres neuen Spielzeugs. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber das spielte keine Rolle. Sie konnte sehen, wie er das kleine Gerät mithilfe des Stimmaktivators einschaltete, die Netzzugangsfunktionen durchging (damals hieß es noch das Netz , erinnerte sie sich) und ihr die winzigen Antennen zeigte, die den Kontakt zur Datenbrille herstellten …
Sie schüttelte den Kopf. Das Bild wackelte nicht. Ihr Vater zog sie zu sich heran, nahm ihren Arm und legte ihr vorsichtig die Uhr um das Handgelenk.
Sie wusste, dass es eigentlich kein wirkliches Geschenk war. Es war eine Anzahlung. Eine symbolische Gabe, eine halbherzige Geste, die all die Dinge wiedergutmachen sollte, die er ihr vor so vielen Jahren angetan hatte, die Dinge, die er jetzt gleich tun würde, die Dinge …
Ihr Vater beugte sich vor und küsste eine Stelle direkt über den Augen, die Lenie Clarke nicht schließen konnte. Er tätschelte den Kopf, den Lenie Clarke nicht spürte. Und dann lächelte er …
Und ließ sie allein.
Er ging aus der Küche in den Flur hinaus und ließ sie weiterspielen.
Die Erscheinung löste sich auf. Die Zone strömte herein, um das Loch zu schließen.
Amitav starrte mit finsterem Blick auf sie herab. »Sie irren sich«, sagte er. »Ich bin nicht Ihr Vater.«
Sie rappelte sich mühsam auf. So nah am Wasser war der Boden schlammig und feucht. Halogenlicht ergoss sich in durchbrochenen Streifen von der Station weiter oben über die Küste. Reglose Leiber lagen dicht aneinandergedrängt auf dem Abhang. Keiner der Flüchtlinge war in der Nähe.
Es war ein Traum. Eine weitere … Halluzination. Es war nicht echt.
»Ich frage mich, was Sie hier machen«, sagte Amitav ruhig.
Amitav ist echt. Konzentrier dich. Mit ihm musst du fertig werden.
»Sie sind natürlich nicht der einzige … Mensch, der nach dem Beben an Land gekommen ist«, sagte der Flüchtling. »Selbst jetzt noch werden welche angespült. Aber Sie sind deutlich lebendiger als die anderen.«
Sie hätten mich vorher sehen sollen.
»Irgendwie ist es merkwürdig, dass Sie auf diese Weise zu uns gekommen sind. Vor ein paar Tagen war dieser ganze Strand noch völlig leergefegt. Ein Beben am Grunde des Ozeans, nicht wahr? Weit draußen im Meer. Und hier sind Sie, für die Tiefsee ausgerüstet, und Sie kommen an Land und essen, als hätten Sie tagelang gehungert.« Sein Lächeln wirkte wie das eines Raubtiers. »Und Sie wollen nicht, dass Ihre Leute erfahren, dass Sie hier sind. Sie werden mir jetzt sagen, warum.«
Clarke beugte sich vor. »Tatsächlich? Und was, wenn ich es nicht tue?«
»Ich werde zum Zaun gehen und es ihnen sagen.«
»Dann gehen Sie doch«, sagte Clarke.
Amitav starrte sie an, seine Wut war beinahe greifbar.
»Na los!«, spornte sie ihn an. »Vielleicht
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