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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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und das Wärmegewitter verwandelte sich in eine mattgraue, unruhige Menschenmenge.
    Die Zone hatte ihre eigenen Bezirke, Ghettos innerhalb von Ghettos, die sich von selbst herausbildeten. Die Leute hier stammten hauptsächlich vom Indischen Subkontinent. Perreault stellte ihre Primärfilter auf Pandschabi, Bengalisch und Urdu ein. Sie begann herumzufragen.
    Eine Explosion, ja. Niemand wusste mit Sicherheit, wie es dazu gekommen war. Manche behaupteten, laute Stimmen gehört zu haben. Die eines Mannes, einer Frau und eines Kindes. Jemand wurde des Diebstahls beschuldigt. Und dann plötzlich, peng .
    Danach waren alle wach und suchten das Weite. Die Frau wedelte mit einer Art Elektroschocker, als sei es eine Keule. Die Menge blieb auf Abstand. Ein Mann befand sich im Kreis mit ihr. Sein Gesicht war blutig, und er war wütend. Er stellte sich der Frau entgegen, ohne auf die Waffe in ihrer Hand zu achten. Alle waren sich einig, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt verschwunden war. Niemand wusste, wie der Name des Kindes gelautet hatte.
    An die Erwachsenen erinnerten sie sich jedoch sehr gut. Es waren Amitav und die Meerjungfrau.
    »Wohin sind sie gegangen?«, fragte Perreault, und die Mechfliege übersetzte ihre Worte mit gleichgültiger Stimme.
    Zum Ozean. Die Meerjungfrau geht immer zum Ozean.
    »Und was ist mit dem anderen? Diesem Amitav?«
    Ihr hinterher. Mit ihr. Zum Ozean.
    Vor zehn Minuten vielleicht.
    Perreault zog die Mechfliege steil nach oben und suchte aus fünfzig Metern Höhe die Zone ab. Die Flüchtlinge verwandelten sich in eine Ansammlung Brown'scher Teilchen. Wellenförmige Bewegungen wanderten durch die Menschenmenge, schneller, als sich ein einzelner Mensch hätte bewegen können. Dort! Kaum zu erkennen, eine verblassende Turbulenz, die sich vom Krater bis zur Brandung erstreckte. Sich ziellos bewegende Teilchen, die erst vor kurzem von etwas Zielgerichtetem durcheinandergewirbelt worden waren.
    Sie schoss zum Ufer hinunter. Überall blickten ihr hochgereckte Gesichter entgegen, leuchtend grau durch die Lichtverstärker der Mechfliege, die ihrem Kurs folgten wie Sonnenblumen dem Licht.
    Abgesehen von einer Gestalt, ein Stück weiter unten am Strand, die durch den knöcheltiefen Schaum in Richtung Süden lief, ohne zurückzublicken.
    Perreault weitete die Reichweite der Filter aus – die Gestalt hatte nichts Mechanisches im Brustkorb. Es war also nicht die Meerjungfrau. In anderer Hinsicht war die Gestalt jedoch durchaus bemerkenswert. Perreault verfolgte ein Skelett; eine makabere Rückkehr in die Tage, als Mangelernährung noch überall auf der Welt das Kennzeichen der Flüchtlinge gewesen war.
    Hier gab es keinen Grund zu hungern. Schon seit Jahren nicht mehr. Dieser Mann hatte absichtlich gehungert. Aus politischer Überzeugung.
    Kein Wunder, dass er davonlief.
    Perreault ging mit der Mechfliege auf Verfolgungskurs. Innerhalb von Sekunden hatte sie ihre Beute überholt, schwenkte herum und flog dabei nach unten, um ihm den Weg zu versperren. Perreault schaltete die Scheinwerfer ein und nagelte den Flüchtling mit einem Doppelstrahl blendender Halogenlichter fest.
    »Amitav«, sagte sie.
    Natürlich hatte sie von ihnen gehört. Sie waren zwar selten, aber nicht so selten, dass man ihnen nicht einen Namen gegeben hätte: Knochenmänner wurden sie genannt. Perreault hatte bisher noch keinen von ihnen leibhaftig zu Gesicht bekommen.
    Ein Hinder. Eingesunkene Augen, die in finsteren Schatten lagen. Ein glänzendes Blutrinnsal lief an seinem Gesicht herab. Eine Hand hatte er erhoben, um die Augen gegen das Licht zu schützen; aus einem aufgerissenen Stigma an seiner Handfläche quoll ebenfalls Blut. Seine Gliedmaßen, Gelenke und Finger, die aus der zerfetzten Kleidung hervorragten, waren so scharfkantig und eckig wie ein Origami. Die Sohlen seiner Füße waren mit Plastik eingesprüht, als Ersatz für Schuhwerk.
    Der Ozean versperrte ihm auf der einen Seite den Weg, und ein Kreis neugieriger Zonenbewohner hatte sich um ihn gebildet, die sich jedoch vom Halogenlicht fernhielten. Der Körper des Knochenmanns war angespannt, zwischen den gleichermaßen zwecklosen Möglichkeiten der Flucht und des Angriffs erstarrt.
    »Beruhigen Sie sich«, sagte Perreault. »Ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
    »Ah. Fragen von einem Polizeiroboter«, sagte der Knochenmann. Unter den schmalen Lippen kamen braune Zähne zum Vorschein, deren Zwischenräume blutig waren. Eine zynische Grimasse. »Da bin ich ja

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