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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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und wurden brandig.
    Manchmal stürzten die Begrenzungsmauern irgendwann doch noch ein. Die Quarantäne wurde beendet oder atrophierte im Laufe der Zeit von selbst. Die Tore wurden geöffnet oder vom Rost zerfressen. Doch dann war es längst zu spät; das Gewebe war bereits nekrotisch. In die tote Zone floss kein frisches Blut mehr hinein. Es flackerte höchstens hier und dort einmal in den unterirdischen Kabeln – periphere Nerven, durch die der Mahlstrom über die Lücke im System hinwegsprang. Möglicherweise gab es ein paar Menschen, die die Zone nicht rechtzeitig hatten verlassen können und die immer noch am Leben waren. Und andere, die weniger aus eigenem Antrieb hierher kamen, sondern weil sie andere Gegenden umgehen wollten.
    An einem solchen Ort befand sich Lenie Clarke gerade. Eine Trümmerstadt, voller zerschlagener Fenster und verlassener Gebäude mit leeren Augenhöhlen. Wenn es hier noch Bewohner gab, so nahmen sie in der Regel keine Notiz von ihr. Sie mied die offensichtlichen Territorialgrenzen: zahnlose Kinderschädel, die in einem bestimmten Muster auf dem Gehsteig angeordnet waren; eine halb mumifizierte Leiche, die mit dem Kopf nach unten an ein Kreuz genagelt war, darunter die rätselhafte Inschrift Der heilige Petrus der Unwürdige . Fahrzeugwracks, die wie zufällig diese oder jene Straße versperrten – verrostete Absperrungen, die Unvorsichtige zu irgendeinem Schlachthaus führen sollten wie Fische in einer Reuse.
    Zwei Tage zuvor war sie nur knapp einer Gruppe Weltverbesserer entgangen, die Obdachlose wie Labormäuse gefangen hielt und ihnen irgendeinen Gencocktail spritzte. Wahrscheinlich Xanthoplast-Rezepturen. Seither war es ihr gelungen, unbemerkt zu bleiben. Sie bewegte sich nur nachts vorwärts, wenn ihre wundersamen Augen ihr einen Vorteil verschafften. Sie hielt sich von den Hauptquartieren und Kontrollpunkten in der Gegend mit ihren brennenden Ölfässern und Leuchtstäben und ihren korrodierten, nur noch halb funktionsfähigen Ballard-Notstromaggregaten fern. Es gab Fallen und versteckte Wachtposten, die von Wichtigtuern bemannt waren, die sich in der örtlichen Hierarchie hocharbeiten wollten. Sie strahlten ein leichtes Infrarotleuchten oder kaum wahrnehmbares Licht aus, das ein normaler Menschen nicht bemerkt hätte. Lenie Clarke sah sie jedoch aus einem Häuserblock Entfernung und änderte ihre Route, sodass die auf der Lauer liegenden Wachen sie gar nicht erst zu Gesicht bekamen.
    Sie hatte die Zone beinahe durchquert, als zehn Meter vor ihr jemand aus einem Hauseingang trat. Ein Mischling mit dominanten Latinogenen, dessen Haut in dem verwaschenen Licht, das von ihren Augenkappen verstärkt wurde, schiefergrau aussah. Seine Füße waren schmutzig, und von ihren Sohlen hingen Fetzen aufgesprühtes Plastik herunter. In einer Hand hielt er irgendeine Schusswaffe. Ihm fehlten zwei Finger. Die andere Hand war in eine improvisierte Prothese verwandelt worden, die ganz und gar mit Isolierband umwickelt war, aus dem Glasscherben und rostige Nägel herausragten.
    Er sah sie mit glänzenden Augen an, die ebenso weiß und leer waren wie ihre eigenen.
    »Also?«, fragte Clarke nach einer Weile.
    Mit seiner in eine Keule umgewandelten Gliedmaße deutete er unbeholfen auf die Umgebung. »Klein, aber mein.« In seiner rauen Stimme schwangen alte Krankheiten mit. »Ich verlange einen Straßenzoll.«
    »Dann gehe ich eben denselben Weg wieder zurück.«
    »Nein, das wirst du nicht.«
    Sie tippte beiläufig mit dem Finger auf ihre Armbanduhr und sagte dann mit leiser Stimme, kaum hörbar: »Schatten.«
    »Guthaben übertragen«, erwiderte das Gerät.
    Clarke seufzte und streifte ihren Rucksack ab. Einer ihrer Mundwinkel zuckte ein klein wenig nach oben.
    »Also, wie willst du mich?«, fragte sie.
     
    Er wollte sie von hinten und mit dem Gesicht im Dreck. Er wollte sie Schlampe und Fotze und Krüppelficker nennen und ihre Haut mit seinem selbstgebastelten Streitkolben ritzen.
    Sie fragte sich, ob man das überhaupt eine Vergewaltigung nennen konnte. Er hatte ihr keine Wahl gelassen. Aber sie hatte sich auch nicht eben geweigert.
    Als er kam, schlug er sie, ohrfeigte sie mit seiner Waffenhand, sodass ihr Kopf gegen den Boden geschleudert wurde, aber die Geste hatte etwas Förmliches an sich. Schließlich rollte er sich von ihr herunter und stand auf.
    Sie gestattete sich, wieder in ihren Körper zurückzukehren. Die Beobachtung aus der Ferne verwandelte sich wieder in direkte Erfahrung.

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