Maienfrost
dieser Situation die Kontrolle über sich verloren haben könnte? Vielleicht tötete er die beiden ja in einer Art Kurzschlussreaktion?«
Almut Miersch ließ des Kommissars Worte nachwirken. »Vorstellbar wäre es wohl schon«, räumte sie ein. »Aber warum rächte er sich dann nicht an Pascal Austen? Schließlich war er es doch, der ihm Carmen nahm.«
»Da muss ich Ihnen beipflichten. Das Ganze ergibt tatsächlich keinerlei Sinn. Aber vielleicht befinde ich mich ja auch auf dem Holzweg. Solange ich nicht beweisen kann, dass Carmen und David sich von früher her kannten, entbehren all diese Gedanken ohnehin jeglicher Grundlage.«
»Möglicherweise unterliegen Sie tatsächlich einem Irrtum. Aber je länger ich mir ihre Vermutung durch den Kopf gehen lasse, umso einleuchtender erscheint sie mir. Mal angenommen ihre Theorie, dass Carmen und David einander kannten, würde sich bewahrheiten. Hätte dann nicht auch Pascal Austen ein nachvollziehbares Motiv gehabt? Es wäre doch denkbar, dass er durch Zufall herausfand, in welch emotional enger Beziehung die beiden zueinander standen. Soviel ich weiß, ist Eifersucht doch ein gern gewähltes Mordmotiv! Und wenn dieser feine Herr da drüben, wie anzunehmen, auch nur ein paar der Gene seines Großvaters geerbt hat, dann traue ich ihm jede Schandtat zu.«
»Was hat denn sein Großvater damit zu tun?«, wunderte sich Henning.
»Der war ein Verbrecher, ein ganz verabscheuungswürdiger obendrein! Oder wie würden Sie jemanden bezeichnen, der seine Familie auf dem Gewissen hat?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, dass er sie seinem Machtstreben und seiner Ideologie opferte. Sie müssen nämlich wissen, dass Anton Austen mit einer Jüdin verheiratet war. Die Hochzeit der beiden fand noch vor Kriegsausbruch statt. Bei seiner Braut handelte es sich um Sarah Kelch, die Schwester von Carmens Vater. Sie war nicht nur eine bildhübsche, sondern zudem auch äußerst warmherzige Frau. Carmen glich ihr in vielerlei Hinsicht. Wenn ich sie ansah, dachte ich oft so für mich, dass sie Sarah stark ähnelte. Es war nicht zu übersehen, dass sie deren Schönheit geerbt hatte.«
Ein wehmütiges Lächeln huschte über das Gesicht der alten Frau. Ihren Erinnerungen nachhängend fügte sie hinzu: »Zudem konnte ihre Tante wunderschön zeichnen. Ein von ihr gemaltes Aquarell, das einen Strauß Alpenveilchen darstellt, hängt noch heute über meinem Sofa. Wenn ich es betrachte, muss ich an Sarah denken und dann wird mir ganz weh ums Herz. Die beiden hatten auch zwei allerliebste Töchter, richtige Engelchen, genau wie ihre Mutter. Die Ehe der Austens erweckte jedoch nur nach außen hin den Anschein, glücklich zu sein. In Wahrheit litt Sarah unter dem Jähzorn ihres Mannes. Anton Austen war schon damals unberechenbar und neigte zu spontanen Gewaltausbrüchen. Nach Hitlers Machtergreifung trat er der NSDAP bei. Mit diesem Schritt erhoffte er sich, lukrative Aufträge für seine Baufirma zu sichern. Sein Plan ging auch tatsächlich auf. Die Geschäfte liefen blendend. Mit seiner Ehe jedoch, ging es von Tag zu Tag mehr bergab. Die Abstammung seiner Frau stand der Durchsetzung seiner Interessen im Wege. Anton Austens braune Gesinnung trat immer deutlicher zum Vorschein und er ließ Sarah für ihre Herkunft büßen. Eines Tages stellte man ihm einen Großauftrag in Aussicht. Es wurde gemunkelt, dass es sich dabei um den Bau von so genannten Arbeitslagern handelte. Dieses Projekt hätte ihn schlagartig zum reichen Mann gemacht. Allerdings waren Hitlers Schergen nur dann dazu bereit, ihm den Auftrag zukommen zu lassen, wenn er sich dazu verpflichtete, sich im Gegenzug seiner Familie zu entledigen. Nach Ansicht der Nazis hatten Juden damals schließlich keinerlei Daseinsberechtigung. Stellten Sarah und die beiden Kinder bisher nur einen Makel dar, so wurden sie nun zum unüberwindbaren Hindernis für ihn. Wie Sie sich möglicherweise denken können, erfüllte Anton die Bedingungen der braunen Brut. Eines Tages lud er Sarah und seine beiden kleinen Mädchen in sein Auto und brachte sie nach Schloss Sonnenstein in Pirna. Auf seine Veranlassung hin wurden die drei dort vergast …«
Betroffen ließ Henning Almut Mierschs Worte in sich nachwirken. Er konnte nicht glauben, was er da zu hören bekam. Es erschien ihm unglaublich, wie ein Mensch zu solch einer Tat fähig sein konnte. Schon der Gedanke, die eigene Frau kaltblütig zu opfern war für ihn unerträglich. Dass aber jemand sogar den Tod der
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