Maienfrost
ist mir zugegebener Maßen neu«, bekannte Henning. Gedankenverloren nahm er seine Brille ab und massierte seine Nasenwurzel.
»Dachte ich mir’s doch!« In Almut Mierschs Stimme schwang Genugtuung mit. »Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Spätestens jetzt dürfte Ihnen klar geworden sein, weshalb ich Sie sprechen wollte …«
»Das war auch gut und richtig so!«, pflichtete der Kommissar ihr bei. Die Antwort auf die Frage über sein weiteres Vorgehen musste er der alten Frau zunächst jedoch schuldig bleiben. Es war einfach zu viel, was in der letzten Stunde an neuen Erkenntnissen auf ihn eingestürmt war. Er brauchte jetzt erst einmal etwas Zeit und Ruhe, um Ordnung in das in seinem Kopf herrschende Chaos zu bringen. Nachdem Henning Almut Miersch zugesichert hatte, sie, den Fall betreffend, auf dem Laufenden zu halten, reichte er ihr zum Abschied die Hand. Der alten Frau unerwartet fester Händedruck zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. Etwas in ihrem Blick veranlasste ihn zu dem Versprechen, den Fall aufzuklären. Henning tat dies einem Reflex folgend, ohne sich der Konsequenzen seines Handelns bewusst zu sein. Almut Miersch nickte ihm in stillem Einverständnis zu. Gleichzeitig spürte der Kommissar, wie sich ihr Griff lockerte. Die Gelegenheit nutzend entzog er ihr seine Hand, wandte sich wortlos ab und verließ den Garten. Auf dem Weg zu seiner Unterkunft, fragte er sich verwirrt, welcher Teufel ihn geritten haben mochte, der Frau so leichtfertig sein Ehrenwort zu geben. Voller Unbehagen fiel ihm Dürrenmatts Kriminalroman ›Das Versprechen‹ ein. In Gedanken schalt er sich einen Narren, weil er sich immer wieder darauf einließ seinen Gefühlen anstatt seinem Verstand zu folgen. Obwohl er es zu verdrängen suchte, wusste er, dass es daran lag, wie Almut Miersch ihn angesehen hatte. Es war dieses stumme Flehen, diese Qual in ihrem Blick. Genauso mochte jener Kommissar in Dürrenmatts Geschichte auch empfunden haben. Egal ob leichtsinnig oder nicht, er war eine moralische Verpflichtung eingegangen. Doch auch, wenn dem nicht so gewesen wäre, der Fall hatte ihn längst schon viel zu sehr in seinen Bann gezogen, als dass er sich ihm noch entziehen konnte. Er würde ihn aufklären – nun erst recht. Dass er auch daran zerbrechen könnte, zog er dabei nicht in Betracht.
10
Kurz nach achtzehn Uhr traf Henning wieder im Gasthaus ein. Nachdem er eine Kleinigkeit zu Abend gegessen hatte, ging er auf sein Zimmer. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Der Kommissar zog sein Notizbuch hervor, um seine Aufzeichnungen noch einmal in aller Ruhe durchzugehen. Als er damit fertig war, versuchte er sich einen Plan zurechtzulegen. Zuallererst einmal musste er herausfinden, ob es möglich sein konnte, dass Carmen und David sich von früher her kannten. Die Telefonnummer von Christabelle Kronstedt nachschlagend, nahm er sein Handy zur Hand. Trotz mehrfacher Wählversuche nahm am anderen Ende der Leitung niemand ab. Gegen einundzwanzig Uhr beschloss Henning schweren Herzens, den Anruf auf den nächsten Tag zu verschieben. Unverrichteter Dinge ging er ins Bad, um sich unter die Dusche zu stellen und die Zähne zu putzen. Kurze Zeit später lag er in seinem Bett. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, ließ er seinen Blick gedankenverloren durch das weit geöffnete Fenster nach draußen schweifen. Ab und an hörte Henning auf der Straße ein Auto vorbeifahren. Irgendwo zirpte eine Grille. Es dauerte nicht lange und er dämmerte ein. Von beängstigenden Visionen heimgesucht, wälzte der Kommissar sich unruhig im Bett hin und her. Ein Albtraum ließ ihn schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken. Sein Herz schlug schnell und hart in seiner Brust. Henning hatte von Anton Austen geträumt. Auf den Part des stillen Beobachters beschränkt, musste er mit ansehen, wie Pascals Großvater seine Familie in die Gaskammer schickte. Die Grausamkeit dieses Verbrechens ließ ihn nicht los. Dabei bestimmte das Bild einer, von zwei kleinen Kindern umgebenen Frau, seinen Albtraum. Bei näherer Betrachtung nahm ihr Gesicht Carmens Züge an. Ihre großen haselnussbraunen Augen, die sie in stummer Anklage auf ihn gerichtet hielt, schienen sich unauslöschlich in seine Seele einbrennen zu wollen. Schwer atmend knipste Henning die kleine Nachtischlampe an, die neben dem Bett stand, und sah auf die Uhr. Es war kurz vor vier. Obwohl er genau wusste, dass er keinen Schlaf mehr finden würde, blieb er noch für eine halbe
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