Maienfrost
Stunde liegen. Während er versuchte, seine aufgewühlten Gedanken zu ordnen, wurde es draußen langsam hell. Wild entschlossen, den Fall, der ihn hierher geführt hatte, aufzuklären, stand der Kommissar auf, zog sich an und ging nach unten. Im Haus war es still. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er um diese Zeit kaum damit rechnen konnte, ein Frühstück serviert zu bekommen. Hunger verspürte er zwar keinen, sehnte sich aber nach einer Tasse heißem schwarzen Kaffee. Doch da musste er sich wohl gedulden. Nach kurzem Überlegen, entschloss sich Henning, die frühe Stunde zu einem Spaziergang zu nutzen. Schließlich lag die Sächsische Schweiz nur einen Steinwurf entfernt. Schon als er noch in Auerbach wohnte, reizte es ihn, dem Eibsandsteingebirge einen Besuch abzustatten. Leider kam es nie dazu. Während die Aussicht, Versäumtes nachzuholen, seine Laune schlagartig verbesserte, erinnerte er sich daran, dass ihm gestern in der Nähe des Schlosses eine Informationstafel aufgefallen war.
Wenig später stand er davor, um die darauf angegebenen Wanderrouten zu studieren. Schon kurz nachdem er den Ort verlassen und den Wald betreten hatte, sah er sich einer einzigartigen Landschaft aus Stein gegenüber. Durch die Schwedenlöcher, schroff bizarre Felsreviere mit zerklüfteten Schluchten, führte ihn sein Weg über grob behauene, zum Teil mit Moos und Flechten überzogene Steinstufen zur Bastei hinauf. Die vom Gesang der Vögel erfüllte Luft war zu dieser frühen Uhrzeit noch angenehm kühl. In ein paar Stunden würde sie einer drückenden Schwüle gewichen sein. Wenn es soweit wäre, wollte er jedoch schon lange von seinem Spaziergang zurückgekehrt sein. Er schwitzte jetzt schon, was jedoch weniger an der Temperatur als an dem Höhenunterschied, den es zu überwinden galt, lag. Immer wieder blieb Henning beeindruckt stehen, um sich die Landschaft zu betrachten, die sich im Laufe von Jahrmillionen von einem mehrere hundert Meter mächtigem Sandpaket zu Sandstein verfestigt hatte. Zusammen mit dem Wasser der Elbe, das in Jahrtausenden den Stein abtrug, erschuf die Natur eine Felsenlandschaft von faszinierender Einzigartigkeit. Während er sich seinen Weg durch die steinerne Wildnis bahnte, besann sich Henning eines Gedichtes von Caspar David Friedrich. Nach einigem Überlegen fiel ihm auch dessen Anfang wieder ein: Ich kletterte auf einem schmalen, schwindelnden Pfad, der sich über einem fürchterlichen Abgrund hinzog, einsam und freute mich meiner Kühnheit …
Wie das Gedicht weiterging, daran konnte er sich nicht erinnern. Doch das war ihm im Moment gleichgültig. Vielmehr kam es ihm darauf an, wie vom Dichter beschrieben, zu empfinden. Sich seiner Vorliebe für diesen Künstler bewusst, hatte Anouschka, seine verstorbene Frau, ihm vor Jahren ein wertvolles in Leder gebundenes Buch mit Arbeiten Caspar David Friedrichs geschenkt. Unter anderem enthielt der Band auch den Abdruck eines Bleistichs vom Lilienstein, einem der wuchtigen Tafelberge des Eibsandsteingebirges. Unwillkürlich musste Henning an die Kreidefelsen auf Rügen denken, denen der Künstler mit einem seiner wohl berühmtesten Werke gleichfalls ein unvergessliches Denkmal schuf. Die sich für ihn daraus ergebende Verbindung seinen Fall betreffend, ließ ihn schmunzeln. Er hoffte, dass dies ein gutes Omen war. Seit langer Zeit wieder einmal gestattete er sich, ungestört seinen Gedanken nachzuhängen. Bergauf über vom Regen ausgespülte Pfade wandernd, die wild wuchernde Farne und ausuferndes Strauchwerk säumten, näherte er sich der Bastei. Auf ihrem Wahrzeichen, der steinernen Brücke, angekommen, die in mehreren Bögen eine felsige Schlucht überspannt, bot sich ihm ein atemberaubender Ausblick über das Elbtal und die Tafelberge des Elbsandsteingebirges. Mehrere Aussichtsplattformen, über abzweigende Stege zu erreichen, gaben den Blick auf gähnende Abgründe frei. Für Bergsteiger mochte dies ein Eldorado sein. Doch für jemanden, der unter Höhenangst litt, hinterließ die schwindelerregende Aussicht ein eher mulmiges Gefühl in der Magengegend. Auch bei Henning machte sich ein unangenehmes Ziehen, begleitet von einem weithin vernehmbaren Knurren bemerkbar. Es erinnerte ihn höchst unsanft daran, dass er heute noch nicht gefrühstückt hatte. Um dieses Versäumnis nachzuholen, lenkte der Kommissar seine Schritte zu dem in unmittelbarer Nähe gelegenen Hotelkomplex, an dem er erst vor kurzem vorbeigekommen war. Erschöpft ließ er sich
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