Maienfrost
ihr Plan. Gegen Morgen, als sie glaubte, einen Weg gefunden zu haben, der es ihr ermöglichte, ihren Vater aus der Sache heraus zu halten, stand ihr Entschluss fest. Das, was sie vorhatte, war ein gewagtes Unterfangen. Es bestand darin, sich Pascal Austen anzubieten; ihm in Aussicht zu stellen, dass sie bereit sei, ihn zu heiraten, wenn er ihr dafür verspräche, ihren Vater bei der ganzen Angelegenheit außen vor zu lassen. Als Gegenleistung bot sie Pascal an, ihm am Tag ihrer Eheschließung die Villa samt Grundstück zu überschreiben. Falls er nicht wie erhofft darauf eingehen sollte, wollte Carmen sämtliche gerichtliche Instanzen anrufen, um für ihr Recht zu kämpfen. Ihrer Überzeugung nach hätte es Jahre gebraucht, um ein rechtsgültiges Urteil zu erzielen. Einzelheiten dieses Gespräches sind mir jedoch nicht bekannt. Carmen informierte mich nur in groben Zügen darüber. Offenbar war es ihr peinlich. Ich weiß daher nicht, inwieweit sie mit offenen Karten spielte: ob sie Pascal ihr Angebotgeschäfts mäßig unterbreitete, oder ihn in dem Glauben ließ, dass sich aus der von ihr in Aussicht gestellten Ehe eine tiefer gehende Beziehung entwickeln könnte. Das zu beurteilen, wäre rein spekulativ.«
»Das klingt aber ganz schön abenteuerlich«, wandte Henning skeptisch ein, als Almut Miersch ihren Bericht beendet hatte.
»Das sagen Sie nur, weil Sie Carmen nicht kannten. Davon, was sie sich einmal in den Kopf setzte, konnte sie kein Mensch abbringen, noch dazu, wenn es um das Wohlergehen ihres Vaters ging. Die Sorge um ihn überwog all ihre Bedenken.«
»Meinen Unterlagen zufolge, war Carmen damals doch gerade einmal achtzehn. Ich nehme an, dass die meisten Mädchen in diesem Alter eine romantische Vorstellung von der Ehe haben. Daher ist es für mich schwer nachvollziehbar, dass sie so einfach dazu bereit gewesen sein soll, ihre Zukunft – all ihre Träume – zu opfern. Angesichts seines guten Aussehens halte ich es für wahrscheinlicher, dass sie sich in Pascal Austen verliebte. Vielleicht war dieser Handel ja gar kein so großes Opfer für Carmen …«
»Von diesem Gedanken können Sie sich getrost verabschieden«, stellte Almut Miersch klar. »Als sie Pascal damals kennen lernte, war ihr Herz bereits vergeben.«
»Wollen Sie mich zum Narren halten?«, entrüstete sich Henning.
»Keinesfalls. Hätten Sie mich ausreden lassen, wüssten Sie, wovon ich spreche. Davon nämlich, dass Carmen in ihrem damals noch jungen Leben bereits eine herbe Enttäuschung erlebte. Sie war verliebt, wohlgemerkt unglücklich verliebt. Diese Tatsache hatte ihr ganzes Leben von Grund auf verändert. Jenes tiefe Gefühl, dass sie für ihre erste Liebe entwickelte, begleitete sie fortan wie ein Schatten, es ging nie vorbei. Egal was sie tat, in Gedanken war jener Mann immer bei ihr. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen. Für sie war er der einzig Richtige und würde es für alle Zeit bleiben.«
Erneut wollte der Kommissar einen Einwand geltend machen. Doch Almut Miersch gab ihm deutlich zu verstehen, dass sie nicht unterbrochen werden wollte. »Bevor Sie mir ins Wort fallen«, wies sie ihn zurecht, »lassen Sie es mich erklären: eines Tages, ich schätze, es war etwa zwei Jahre vor ihrem Tod, nahm ich eine Veränderung an Carmen wahr. Ihre Augen hatten plötzlich einen ganz besonderen Glanz angenommen und ihr Blick schweifte des Öfteren sehnsuchtsvoll in die Ferne. Das waren für mich die typischen Anzeichen dafür, dass Amors Pfeil sie getroffen haben musste, wie man so schön sagt. Es wäre mir jedoch nicht eingefallen, sie daraufhin anzusprechen. Ich ging davon aus, dass sie sich mir über kurz oder lang anvertrauen würde. Doch leider wartete ich vergebens. Stattdessen musste ich mit ansehen, wie sie von Tag zu Tag schweigsamer und in sich gekehrter wurde. Carmen lachte kaum noch. Entgegen meinen guten Vorsätzen stellte ich sie eines Tages zur Rede. Ich machte mir Sorgen, konnte es einfach nicht mehr ertragen, sie so verzweifelt zu erleben. Deshalb sagte ich ihr auf den Kopf zu, was ich vermutete. Anstatt etwas zu erwidern, sah Carmen mich nur an. Dabei lag in ihrem Blick so viel unausgesprochene Qual, dass es mir noch jetzt eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn ich daran denke. Meine Worte bewirkten, dass sie in Tränen ausbrach. Bestürzt nahm ich sie in die Arme und ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen. Endlich brach sie ihr Schweigen und bestätigte meinen Verdacht. Indem sie mir ihr Geheimnis anvertraute,
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