Maienfrost
ließ mein kleines Mädchen mich an der wohl rührendsten Liebesgeschichte teilhaben, die ich jemals zu hören bekam.« In Gedanken versunken berichtete Almut Miersch dem Kommissar in groben Zügen, was sich damals zugetragen hatte …
»Das, was in jener Sommernacht geschah, prägte sich ihr so tief und nachhaltig ein, dass sie felsenfest davon überzeugt war, niemals wieder so intensiv für einen anderen Mann empfinden zu können. Carmen gehörte zu den wenigen Menschen, die ihr Herz nur einmal verschenken. Ihre Gefühle unerwidert zu sehen, war daher eine bittere Erkenntnis für sie. Aus dieser Einsicht heraus beschloss sie, unverheiratet zu bleiben. Allenfalls wäre sie bereit gewesen, eine Vernunftehe einzugehen. Damit war für sie alles gesagt. Eines jedoch hatte Carmen mir verschwiegen: es war die Identität des Mannes, der ihr das Herz brach. Sie erwähnte lediglich, dass sie, da es sich um einen Auswärtigen handelte, einander schreiben wollten. Von jener Nacht an, versandte mein kleines Mädchen einen Brief nach dem anderen. Sie können sich nicht vorstellen, wie verzweifelt sie war, keine Antwort darauf zu erhalten. Carmen tat mir unsagbar Leid. Um zu helfen, riet ich ihr, ihr Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Ich schlug ihr vor, den großen Unbekannten aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen. Mein Ratschlag ließ sie jedoch in Tränen ausbrechen. Wenn das so einfach wäre, sagte sie zu mir, dann hätte ich das mit Sicherheit schon längst getan. Aber genau das geht leider nicht – es ist unmöglich. Als ich sie daraufhin fragte, weshalb es denn unmöglich sei, bat sie mich, nicht weiter in sie zu dringen. Carmen meinte, es sei manchmal besser, nicht alles zu wissen. Sie müsse selbst sehen, wie sie damit fertig werde. Helfen könne ihr ohnehin niemand.«
»Haben Sie je darüber nachgedacht, was Carmen dazu bewogen haben könnte, Ihnen den Namen des Mannes zu verschweigen?«, wollte Henning wissen.
»Und ob ich das habe«, bestätigte ihm Almut Miersch. »Ich vermute noch immer, dass der Mann verheiratet war. Welchen Schluss hätten ihre Worte denn sonst zulassen sollen?«
»Genau diese Frage stelle ich mir gerade«, bekannte der Kommissar.
Einer ihm plötzlich in den Sinn kommenden Eingebung folgend, erkundigte er sich, ob Ende der Achtzigerjahre für Carmen die Möglichkeit bestand, in die Bundesrepublik zu reisen. »Um meine Frage noch einmal zu verdeutlichen: sie bezieht sich auf die Zeit vor der Wiedervereinigung. Als ehemaliger Bundesbürger weiß ich, dass man, aus dem Westen kommend, zumeist problemlos in die DDR einreisen konnte. Umgekehrt war das aber sicher nicht so einfach, oder?«
»Nicht so einfach!«, höhnte Almut. »Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts! Für den normalen DDR-Bürger war das schlichtweg unmöglich. Es sei denn, man hatte drüben Verwandte ersten Grades. Und selbst dann musste ein triftiger Grund vorliegen, wie etwa ein Trauerfall oder eine Hochzeit, um eine zeitlich befristete Ausreisegenehmigung zu erhalten. Carmen, um auf Ihre Frage zurückzukommen, gehörte leider nicht zu diesen Auserwählten.«
»Sind Sie sich da auch ganz sicher?«
»Absolut!«
»Dann«, so schlussfolgerte Henning, »wäre es rein theoretisch ja auch denkbar, dass es sich bei dem großen Unbekannten um einen Westdeutschen handelte. Er könnte zu Besuch hier gewesen sein und dabei Carmen kennen gelernt haben. Als sie sagte es sei ihr unmöglich, könnte sie damit genauso gut gemeint haben, dass die Lage seines Wohnortes sie daran hinderte, ihn zur Rede zu stellen.«
Verwunderung zeichnete sich auf den Zügen der alten Frau ab. »Diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht in Betracht gezogen«, gestand sie. Es war ihr anzumerken, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Darf ich fragen, was Sie zu einer solchen Vermutung veranlasst?«
»Ich kam auf den Gedanken, als mir einfiel, das David Küster, Albert Pirells Aufzeichnungen zufolge, aus Köln stammte.«
»Sie glauben doch nicht etwa, dass er der große Unbekannte sein könnte?«
»Warum nicht? Immerhin würde das die bisher fehlende Verbindung zwischen Carmen und ihm erklären. Seit ich mich mit diesem Fall beschäftige, vermutete ich, dass die beiden Opfer anstatt wahllos, wie bisher angenommen, ganz bewusst ausgewählt wurden. In der Hoffnung, genau diese Zusammenhänge aufzudecken, kam ich her. Wenn es mir gelänge herauszufinden, welche Beziehung zwischen den beiden bestand, brächte mich das mit Sicherheit schon ein
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