Maienfrost
eigenen Kinder seiner Machtinteressen wegen billigend in Kauf nahm, überstieg die Grenze seiner Vorstellungskraft. Allein schon der bloße Gedanke daran jagte ihm eisige Schauer den Rücken hinab.
Ihn fröstelte. Die Sonne schien plötzlich ihre wärmende Kraft verloren zu haben. Henning schluckte. Sein Mund fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an. Er hatte das Empfinden, das seiner Zunge der bittere Beigeschmack des Todes anhaftete.
Wie aus weiter Ferne vermeinte Henning das Wehklagen abertausender gepeinigter, in einen engen Raum zusammengepferchter Menschen zu vernehmen. Ihre Leiber waren ausgemergelt und nackt. Mit weit geöffneten Mündern und angstvoll aufgerissenen Augen, wohl wissend dass das Ende bevorstand, rangen sie verzweifelt nach Luft während das unsichtbare Gift sich in ihre Lungen fraß und sie eines jämmerlichen Erstickungstodes sterben ließ.
Almut, die sein Entsetzen erahnte, ließ ihm Zeit, ihre Worte zu verdauen. Eine Zeit lang hingen sie beide ihren Gedanken nach. Mit, von der Erinnerung überwältigter, kaum mehr zu verstehender Stimme, in der ein leichtes Zittern mit schwang, sagte die alte Frau: »Es ist kaum zu glauben, wozu Menschen aus fehlgeleiteter Ideologie fähig sein können. Für mich ist es unfassbar, dass dieses Verbrechen bis heute ungesühnt blieb. Aus dem Untergrund heraus agierend, fand Aaron zwar heraus, was mit seiner Schwester und deren Kindern geschehen war. Aber solange Hitler noch an der Macht war, konnte er seiner jüdischen Abstammung wegen nicht gegen seinen Schwager vorgehen. Hätte die Gestapo ihn zu fassen bekommen, wäre sein Leben keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Später dann, als sich ihm die Möglichkeit bot, Anton Austen zur Rechenschaft zu ziehen, stellte sich heraus, dass die einzige Zeugin – eine zur damaligen Zeit im Schloss angestellte Dienstmagd – bei den Bombenangriffen auf Dresden ums Leben kam. Sicher können Sie sich vorstellen, wie bitter es für Aaron gewesen sein muss, sich durch den Tod dieser Frau all seiner Beweise für Antons Schuld beraubt zu sehen. Denn nun hatte er nichts mehr in der Hand, womit er seinen Schwager zwingen konnte, ein Geständnis abzulegen. Anton Austen musste fortan jedoch damit rechnen, dass ruchbar würde, welches Verbrechens er sich schuldig gemacht hatte. Aus Angst vor den sich daraus ergebenden Konsequenzen fürchtete er verständlicherweise um sein Leben und versuchte unterzutauchen. Aaron gelang es, seine Flucht zu vereiteln. Ich glaube, wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er Anton eigenhändig erwürgt. Aber Carmens Vater war kein gewalttätiger Mensch. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn einem Menschen. Ich denke, aufgrund seines Glaubens vertraute er darauf, dass sein Schwager eines Tages seine gerechte Strafe schon noch bekommen würde. Ganz ungeschoren wollte er Anton dennoch nicht davon kommen lassen. Sich von ihm in die Enge getrieben gefühlt, überschrieb Pascals Großvater Aaron die Villa samt Grundstück. Was genau sich damals zwischen den beiden abspielte, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, dass Aaron nach Antons Verschwinden, die sich als Flucht in den Westen herausstellte, im Besitz von Papieren war, die ihn als neuen Eigentümer auswiesen. Über vierzig Jahre lang sah sich niemand dazu veranlasst, die Echtheit dieser Schriftstücke anzuzweifeln. Das änderte sich erst, als Antons Enkel in Erscheinung trat, um sein Erbe einzufordern. Pascal Austen berief sich darauf, dass sie unter Zwang zustande gekommen und somit nichtig seien. Skrupellos, wie ich ihn von Anfang an einschätzte, wird er schon eine Gesetzeslücke auszunützen gewusst haben.
Schließlich war er ja Immobilienmakler und somit vom Fach. Und er war ja auch beileibe nicht der Einzige, der die Gunst der Stunde für sich zu nutzen wusste. Pascal gehörte zu denen, die glaubten, sich nach der Wende hier bei uns mühelos eine goldene Nase holen zu können. Schließlich sprach es sich schnell herum, wie billig man hier im Osten an lukrative Grundstücke kommen konnte. Ich möchte lieber nicht wissen, wie viele unserer Leute in ihrer Naivität und Unwissenheit auf derlei krumme Geschäfte und falsche Versprechungen hereinfielen. Oder glauben Sie wirklich, dass sich dieser feine Herr da drüben seinen nicht zu übersehenden Reichtum mit ehrlicher Arbeit verdient hat?« Verächtlich fügte sie hinzu: »Das allerdings dürfte er Ihnen kaum auf die Nase gebunden haben, stimmt’s?«
»Das
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