Maienfrost
Jahre aber nicht. Ich melde mich bei dir, sobald ich mit ihm gesprochen habe.«
Bevor er das Gespräch beenden konnte, bat Henning ihn darum, noch etwas für ihn in Erfahrung zu bringen. »Mir ist da gerade so eine Idee gekommen«, ließ er seinen Kollegen wissen. »Zwar halte ich es für unwahrscheinlich, dass Wigald Austen etwas mit den Inselmorden zu tun haben könnte, aber ausschließen will ich es auch nicht. Seine Haushälterin sagte mir, er sei für ein paar Tage weggefahren. Könntest du herausfinden wohin die Reise ging?«
Erich Kröger versprach, sich darum zu kümmern.
Nachdem er sich bei seinem Kollegen für dessen Hilfe bedankt und das Telefonat beendet hatte, ließ Henning das Gehörte noch einmal Revue passieren. Er versuchte sich darüber klar zu werden, welche möglichen Auswirkungen, den Fall betreffend, es haben könnte, wenn Pascals Vater seine Frau mittels einer Kaliuminjektion ins Jenseits beförderte. Nach allem, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte, konnte er nicht umhin, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Zudem saß Wigald Austen als Apotheker ja sozusagen an der Quelle. Kein anderer verfügte über bessere Voraussetzungen, um an den todbringenden Stoff zu kommen.
Er versuchte Peer auf seinem Handy zu erreichen, um ihm von dem Telefonat zu berichten. Nach mehrmaligem Klingeln schaltete sich jedoch lediglich seine Mailbox ein.
17
Seit er mit der Schauspieltruppe am Kap gastierte, stand Ingolf Schöne für gewöhnlich kurz nach fünf auf. Auch am Mittwoch, dem dreißigsten Juli, riss das Klingeln seines Weckers ihn zu dieser frühen Morgenstunde unsanft aus dem Schlaf. Unwillig erhob er sich, um in seine neben dem Bett liegenden Sportsachen zu schlüpfen und seine Turnschuhe anzuziehen. Schon im Gehen begriffen, warf er sich ein Handtuch über die Schultern und verließ das Zimmer. Im Haus war es still. Die anderen schliefen noch. Leise stahl Ingolf sich die Treppe hinunter. Als er wenig später im Freien stand, fuhr ein kräftiger Windstoß durch sein dichtes schwarz gelocktes Haar. Seiner Eitelkeit und dem Streben nach Perfektion geschuldet, legte er Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Seit er in ›Romeo und Julia‹ in der Rolle des Grafen Paris brillierte, glaubte Ingolf Schöne zu höherem auserkoren zu sein. Gleichwohl war er der Meinung, dass zu den unverzichtbaren Voraussetzungen einer aufstrebenden Künstlerkarriere neben geistigen Fähigkeiten auch ein athletischer Körperbau von Nöten sei. Von dem Gedanken eines kometenhaften Aufstiegs beflügelt, setzte er sich in Bewegung. Erst den Marinepeilturm, später dann linker Hand den slawischen Burgwall hinter sich lassend, joggte er nach Vitt. Unweit eines kleinen romantischen Hafens, in dessen Nähe eine Fischräucherei lag, schwamm er eine Runde im Meer. Vom angenehm kühlen Salzwasser der Ostsee erfrischt, trat er den Rückweg an.
Als die Nebelstation in Sicht kam, verlangsamte er das Tempo. Um nach all der schweißtreibenden Mühe wieder zu Atem zu kommen, pflegte Ingolf Schöne noch eine abschließende Runde um das sich den Leuchttürmen anschließende Areal zu drehen. Gemessenen Schrittes inspizierte er zunächst die terrassenförmig angelegte Bühne. Ein kurzer Blick darauf verriet ihm, dass sie ruhig und verlassen in der Morgensonne lag. Danach führte ihn sein Weg zu den Überresten eines noch aus DDR-Zeiten stammenden Fahrzeugunterstandes. Im Schutz seiner Mauern hatte schon so mancher Tippelbruder übernachtet. Auf einem seiner Kontrollgänge wäre Ingolf Schöne beinahe einmal über einen solchen Zechbruder gestolpert, der, eine leere Schnapspulle in der Hand, an die Betonwand gelehnt, seinen Rausch ausschlief. Erbost hatte er ihn verscheucht. Er fand den Gedanken unerträglich, den als Gruft der Capulets auserwählten Ort von derartigen Individuen entweihen zu lassen. Die des Nachts von unzähligen Kerzen erleuchtete Kulisse inmitten der Betonwände bot schließlich den perfekten Rahmen für den tragischen Höhepunkt des Theaterstücks.
Mit jenem unbewusst arroganten Lächeln, das seine Züge prägte und ihm einen Hauch von Hochmütigkeit verlieh, näherte sich Ingolf Schöne dem Romeo und Julia als letzte Ruhestatt dienendem Ort. Seine grauen Wände waren von zahlreichen Regengüssen ausgespült und von heftigen Stürmen stark verwittert und stellten bei Tageslicht besehen, kein allzu schönes Bild dar. Als sein Blick auf das im Schauspiel als Totenbett dienende Podest fiel, erstarrte sein Lächeln.
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