Maienfrost
präsentierte sich wieder als einer dieser strahlend schönen Sommertage, an denen keine einzige Wolke am stahlblauen Himmel der Sonne die Sicht versperrte. Schon am frühen Vormittag zeigte das Thermometer satte fünfundzwanzig Grad an. Leona fragte sich, wie heiß es wohl in ein paar Stunden sein würde. Die von ihr für diesen Tag geplante Wanderung zum Pfarrwitwenhaus nach Groß Zicker würde unter den gegebenen Umständen eine schweißtreibende Angelegenheit werden. Deshalb entschied sie sich dafür, ihr Vorhaben aufzuschieben und sich stattdessen mit einem Taschenbuch an den Strand zu begeben. Mit einer geflochtenen Korbtasche überm Arm, die ihre Badeutensilien enthielt, steuerte sie den etwas abseits gelegenen und nicht ganz so dicht bevölkerten Nordstrand an, von wo aus man bis hinüber nach Göhren mit seiner auf einem Hügel gelegenen Kirche blicken konnte. Als sie ankam, lag der von Bäumen begrenzte Strandabschnitt noch größtenteils im Schatten.
Schon bald hatte Leona ein passendes Plätzchen gefunden. Nachdem sie ihr Badetuch auf dem feinkörnigen Sand ausgebreitet und sich ihrer Sachen entledigt hatte, ging sie eine Runde schwimmen. Als sie das Wasser wieder verließ, fühlte sie sich angenehm erfrischt. Während sie sich in den Ostseewellen tummelte, hatte es sich eine Handvoll Jugendlicher neben ihrem Handtuch bequem gemacht. Aus einem in ihrer Mitte stehenden Transistorradio dröhnte laute Musik. Während Leona sich abtrocknete und eincremte, erwog sie, sich ein ruhigeres Fleckchen zu suchen. In ihre Überlegungen hinein brach der ohrenbetäubende Lärm abrupt ab. Statt seiner gab ein Moderator die Uhrzeit bekannt. Es folgten die Nachrichten. »Wie die Redaktion soeben, nach noch unbestätigten Berichten erfuhr«, gab der Sprecher, ein der Stimme nach junger Mann mit akzentfreier Aussprache bekannt, »schlug der als Inselmörder in die Schlagzeilen geratene Täter heute Nacht wieder zu. Bei seinem nunmehr dritten Opfer handelt es sich um die dreiundzwanzigjährige Schauspielstudentin Vanessa Rothe die im Theatersommer am Kap in der Rolle der Julia zu sehen war. Der diesmal in der Nähe des Kaps aufgefundenen Leiche wurde die Kehle durchgeschnitten. Genau wie die beiden anderen ermordeten Frauen trug sie ein Brautkleid und hielt eine weiße Lilie in der Hand. Wie wir aus internen Kreisen erfuhren, soll es der Polizei diesmal jedoch gelungen sein, einen Tatverdächtigen zu ermitteln. Über weitere Einzelheiten halten wir sie auf dem Laufenden. Und nun …«
Leona zeigte sich bestürzt. Zuerst hatte sie nur mit halbem Ohr zugehört. Doch als sie mitbekam, worum es ging, waren ihre Sinne darauf ausgerichtet, sich kein Wort entgehen zu lassen. Obwohl Henning ihr gegenüber angedeutet hatte, dass er einen weiteren Mord der entwendeten drei Lilien und auch der gestohlenen Brautkleider wegen nicht ausschließe, hatte sie sobald nicht damit gerechnet. Nach dieser Nachricht war ihr die Lust am Sonnenbaden vergangen. Achtlos packte sie ihre Sachen zusammen und verließ den Strand. Den gesamten Heimweg über kreisten ihre Gedanken um das Gehörte. Wieder zurück, hielt sie nach Henning Ausschau. Sie fand ihn im hinteren Teil des Gartens damit beschäftigt, das Drahtgeflecht des Zauns auszubessern. Als er sie entdeckte, erhob er sich, um ihr entgegenzugehen. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, verriet ihm, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Bestürzt hörte er sich an, was sie ihm zu sagen hatte. Hennings Reaktion ließ Leona davon ausgehen, dass Peer sich bisher noch nicht bei ihm gemeldet hatte. Nachdenklich geworden, packte der Kommissar sein Werkzeug zusammen. Als sie wenig später gemeinsam zum Haus gingen, vergewisserte er sich nochmals, ob sie auch sicher sei, dass es sich bei der Toten um die in der Rolle der Julia auftretenden Schauspielerin handle.
»Ganz sicher! Warum fragen Sie?«
»Ehrlich gesagt erstaunt mich das«, sagte Henning. »Wie Sie ja wissen, habe ich mir erst kürzlich das Stück angesehen. Von daher ist mir die in der Rolle der Julia zu sehende Darstellerin noch in guter Erinnerung. Von der Statur her könnte sie dem vom Mörder bevorzugten Personenkreis entsprochen haben, nicht jedoch ihrem Erscheinungsbild nach. Sie hatte helle Haut und blondes Haar. Ich weiß noch, dass ich sie mit einer blond gelockten zartgliedrigen Elfe verglich. Nun frage ich mich natürlich, weshalb der Täter diesmal von seinem gewohnten Schema abwich? Irgendwie ergibt das keinen
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