Maigret - 18 - Maigret in Nöten
und gegen elf Uhr stand er, unzufrieden über jemanden oder mit etwas, allein am Ufer der Seine. Etwas weiter vorn, am Quai des Célestins, kam er an den Büros von Ducrau vorbei. Es brannte nirgends Licht. Im Schein einer Gaslaterne schimmerten die Messingschilder. Und am ganzen Ufer entlang lagen ruhig, eines neben dem andern, die Schiffe auf dem Strom.
Warum hatte der Chef das gesagt? Das war doch absurd! Maigret freute sich wirklich aufs Land, auf die Ruhe, aufs Lesen. Er war müde.
Und dennoch vermochte er seiner Frau nicht einmal in Gedanken zu folgen. Er versuchte sich zu erinnern, was sie ihm über die Ziege und über andere Dinge gesagt hatte. Aber während er das Lichtergewimmel auf dem andern Seineufer betrachtete, fragte er sich in Wirklichkeit:
›Wo wird wohl Ducrau um diese Zeit sein? Ob er endlich nach Hause gegangen ist, obwohl ihm der »Trauerzirkus« so zuwider ist? Oder sitzt er in einem teuren Restaurant oder in irgendeiner Fernfahrerkneipe, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und isst zu Abend? Zieht er wieder von Puff zu Puff, den Trauerflor für seinen Sohn am Ärmel?‹
Über diesen Jean Ducrau war nichts, nicht das Geringste in Erfahrung zu bringen. Es gibt so Leute, über die es nichts zu sagen gibt.
Zwei Inspektoren hatten die Leute im Quartier Latin, an der École des Chartes und in Charenton befragt.
»Ein netter Junge, ein wenig verschlossen, nicht gerade von kräftiger Gesundheit …«
Er schien keine Laster und keine Leidenschaften gehabt zu haben, jedenfalls war darüber nichts bekannt. Niemand wusste, wie er seine Abende verbracht hatte.
»Vermutlich blieb er zu Hause, um zu büffeln, denn seit er krank war, hatte er es mit dem Lernen ziemlich schwer.«
Kein Familienleben. Keine Freunde. Auch keine Freundin. Und dann, eines schönen Morgens, hängt er sich am Dachbalken auf und bezichtigt sich im Abschiedsbrief des versuchten Mordes an seinem Vater!
Da waren aber immerhin diese drei Monate, die er mit Aline auf der ›Toison d’Or‹ verbracht hatte.
Jean … Aline … Gassin … Ducrau …
Maigret erkannte wieder die Einzäunung von Bercy, dann rechter Hand die Schornsteine des Elektrizitätswerks. Straßenbahnen fuhren an ihm vorbei. Manchmal blieb er ohne jeden Grund kurz stehen, um dann wieder weiterzugehen.
Da vorn lag Schleuse 1, stand das hohe Haus, lagen der Kahn, die beiden Bistros, der Tanzschuppen, eine ganze Szenerie, oder vielmehr eine ganze handfeste kleine Welt mit ihren Gerüchen, ihren Eigenarten, ihren ineinander verflochtenen Schicksalen, die er zu entwirren versuchte.
Es war sein letzter Fall. Die Möbel waren bereits in dem Landhaus am Ufer der Loire eingetroffen.
Er hatte seine Frau zum Abschied nicht richtig geküsst. Er hatte seinen Missmut nicht verhehlt, als er die Pakete zum Zug trug. Und er hatte nicht einmal gewartet, bis dieser sich in Bewegung setzte.
Wieso hatte ihm der Chef das gesagt?
Einer plötzlichen Eingebung folgend, stieg Maigret, anstatt weiter ziellos den Quai entlangzugehen, in die Straßenbahn.
Das Mondlicht, das in die hintersten Winkel und Ritzen drang, ließ alles noch leerer erscheinen. Das linke Bistro war schon geschlossen, und in Fernands Lokal saßen drei Männer mit dem Wirt beim Kartenspiel.
Drinnen hörten sie Maigrets Schritte, als er auf der Straße vorbeiging. Fernand hob den Kopf; offenbar hatte er die Schritte des Kommissars erkannt, denn er öffnete die Tür.
»Um diese Zeit noch in der Gegend? Hoffentlich keine schlechten Neuigkeiten?«
»Nichts Neues.«
»Möchten Sie nicht etwas trinken?«
»Danke.«
»Sollten Sie aber. Wir könnten einen Moment plaudern.«
Maigret trat ein, hatte aber das Gefühl, einen Fehler zu machen. Die Spieler warteten, die Karten in der Hand. Der Wirt schenkte ein Glas Marc ein, dann ein zweites für sich selbst.
»Prost!«
»Spielst du oder spielst du nicht?«
»Ach ja! Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Herr Kommissar?«
Dieser blieb stehen und schien etwas Ungewöhnliches zu wittern.
»Nehmen Sie doch einen Stuhl. Stich!«
Maigret schaute hinaus, sah aber nichts als das unbewegte Bild der im Mondschein hervortretenden Silhouetten.
»Sonderbar, diese Geschichte mit Bébert, nicht?«
»Spiel! Plaudern kannst du nachher.«
»Was schulde ich Ihnen?«, fragte Maigret.
»Die Runde geht auf mich.«
»Aber nicht doch.«
»Bestimmt. Eine Sekunde, dann habe ich Zeit für Sie. Trumpf!«
Er legte die Karten ab und kam zur Theke.
»Was möchten Sie
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