Maigret - 18 - Maigret in Nöten
Zeichen der Trauer hatten alle Mieter in dem Haus ihre Läden geschlossen, die gutgemeinte Idee dazu stammte von der Concierge. Und die Schiffe, die im Hafen vertäut lagen, hatten ihre Wimpel auf Halbmast gesetzt, was dem Kanal ein düsteres Aussehen verlieh.
Aus dem Treiben selbst wurde man nicht recht schlau. Überall strichen Neugierige herum, vor allem auf der Schleuse selbst, und immer fragten sie am Ende etwas verlegen irgendjemanden, indem sie auf einen der Mauerhaken zeigten:
»War es da?«
Die Leiche war bereits ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden, der lange, knochige Körper, den die, die in der Marnegegend zu Hause waren, seit langem kannten.
Beben hatte keine Angehörigen gehabt; niemand wusste genau, woher er stammte. Er hatte sich in einem Winkel auf einem der Schwimmbagger der Ponts et Chaussées eingenistet, der seit zehn Jahren in einer Ecke des Hafens vor sich hin rostete.
Er fing das Tau auf, wenn ein Schiff anlegte; er bediente die Schleusentore oder machte sich sonst wie nützlich, insgesamt für ein Trinkgeld. Das war alles.
Der Schleusenwärter ging mit wichtiger Miene in seinem Reich auf und ab, denn heute Morgen hatten ihn schon drei Journalisten ausgefragt, und einer hatte ihn sogar fotografiert.
Maigret ging von der Straßenbahn, kaum war er ausgestiegen, direkt in Fernands Bistro, wo sich mehr Leute als gewöhnlich eingefunden hatten. Es wurde geflüstert. Diejenigen, die ihn kannten, ließen die andern wissen, wer er war. Der Wirt kam und gab sich vertraulich.
»Ein Helles, gut gezapft?«
Mit einem Seitenblick machte er Maigret auf die entgegengesetzte Ecke des Raums aufmerksam. Dort saß ganz allein, grämlich wie ein kranker Hund, der alte Gassin, und mehr denn je waren seine Augen rot umrändert. Er sah Maigret an und wandte den Blick nicht mehr von ihm, sondern schnitt ihm im Gegenteil eine Fratze, um seinem Ekel Ausdruck zu verleihen.
Der Kommissar nahm erst einen großen Schluck von dem kühlen Bier, wischte sich die Lippen und stopfte sich eine frische Pfeife. Durch den Fensterausschnitt hinter Gassin sah er die dicht aneinandergedrängten Schiffe und war etwas enttäuscht, die Gestalt Alines nicht zu erblicken. Der Wirt beugte sich noch einmal über den Tisch, tat so, als wischte er ihn ab, in Wirklichkeit aber flüsterte er Maigret zu:
»Sie sollten etwas für ihn tun. Er kommt ja überhaupt nicht mehr zu Sinnen. Die Papierfetzen, die Sie auf dem Boden verstreut sehen, das ist ein Auftrag, am Quai des Tournelles eine Ladung zu übernehmen. Sie sehen, was er damit gemacht hat!«
Der Alte wusste genau, dass über ihn gesprochen wurde, und er stand mit wackligen Beinen auf, wankte auf Maigret zu und sah ihm herausfordernd in die Augen, dann ging er endlich, wobei er dem Wirt noch einen Rippenstoß versetzte.
An der Tür angelangt, zögerte er. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er gleich auf die Fahrbahn hinaustorkeln, ohne den Bus zu bemerken, der auf ihn zukam. Aber dann schwankte er und steuerte das Bistro gegenüber an, während sich sämtliche Gäste vielsagend ansahen.
»Was halten Sie davon, Herr Kommissar?«
Alle wollten nun mitreden. Man sprach Maigret an wie einen alten Bekannten.
»Wissen Sie, der alte Gassin ist ansonsten ein feiner Kerl. Aber man könnte meinen, die Sache, die da vor einigen Tagen passiert ist, macht ihm immer noch zu schaffen, und ich frage mich allmählich, ob er sich wieder davon erholen wird. Was sagen Sie zu Bébert? Das sieht schon nach Serie aus, nicht?«
Sie waren herzlich und vertraulich. Sie nahmen das Ereignis weniger von der tragischen Seite, aber aus ihrem Lachen hörte man doch auch eine leise Nervosität heraus. Maigret schüttelte den Kopf, antwortete mit einem Lächeln oder einem Brummen.
»Stimmt es, dass der Chef nicht zur Beerdigung kommen will?«
Sogar das war also im Bistro bereits keine Neuigkeit mehr! Und dabei war seit dem Telefongespräch keine Stunde vergangen.
»Er ist eben ein Dickschädel, das weiß jeder. Wissen Sie übrigens, dass man Bébert gestern im Kino Gallia gesehen hat? Wahrscheinlich ist er danach überfallen worden, als er wieder auf seinen Bagger zurückgegangen ist.«
»Ich war auch in dem Kino«, warf einer ein.
»Hast du ihn gesehen?«
»Ich habe ihn nicht gesehen, aber ich war dort.«
»Na, und was geht uns das an?«
»Ich sage ja nur, dass ich dort war.«
Maigret erhob sich lächelnd, bezahlte und verabschiedete sich, indem er in die Runde grüßte.
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