Maigret - 18 - Maigret in Nöten
Er hatte zwei Inspektoren beauftragt, alle nötigen Auskünfte einzuholen, und einen von ihnen, Lucas, sah er nun auf der andern Seite des Hafenbeckens, wie er auf dem Schwimmbagger der Ponts et Chaussées auf und ab ging.
Er kam an Ducraus Haus vorbei. Seit heute früh, vielleicht sogar schon seit gestern Abend stand Decharmes Auto an der Bordsteinkante geparkt. Er hätte hinaufgehen können, aber wozu auch? Er konnte sich ihren ›Trauerzirkus‹, wie Ducrau es genannt hatte, gut vorstellen.
Er schlenderte ziellos umher. Was wusste er schon? Er dachte nicht nach, aber er spürte, dass irgendetwas in ihm Gestalt annahm, auf das er sich nicht zu schnell festlegen durfte.
Er drehte sich um, als er hörte, dass jemand ein Taxi rief. Es war die Concierge, und kurz darauf sah man eine junge, üppige Dame in einem schwarzen Seidenkleid, mit roten Augen, nervös darauf zueilen, während die Concierge ihr Gepäck auf den Rücksitz lud.
Das war Rose, natürlich! Maigret musste unwillkürlich schmunzeln. Erst recht, als die Concierge ein pikiertes Gesicht aufsetzte, weil er näher trat.
»War das die Dame aus dem zweiten Stock?«
»Und Sie, wer sind Sie?«
»Ich bin Kriminalkommissar.«
»Dann wissen Sie es ja so gut wie ich.«
»Hat der Schwiegersohn sie gebeten, wegzufahren?«
»Ich war es jedenfalls nicht, und damit basta!«
Die Sache war sonnenklar! Die Trauerfamilie da oben tuschelte stundenlang darüber, ob es nicht angebracht sei, diese Frauensperson aus Gründen der Pietät aus dem Haus zu entfernen. Und sicher war dann der Hauptmann delegiert worden, um ihr den Beschluss des Familienrats auszurichten.
Es war Zufall, dass Maigret vor der großen blauen Blechtafel stehen blieb, auf der das Wort ›Tanz‹ geschrieben stand. Rund um die zurückversetzte Tür wuchsen Schlingpflanzen, die dem Ganzen den Anstrich eines fröhlichen Ausflugslokals im Grünen gaben. Innen war es, im Gegensatz zur gleißend hellen Straße, schattig und kühl, und die Chromverzierungen am Pianola glitzerten wie echte Edelsteine.
Einige Tische und Bänke standen da, daneben war etwas Platz freigelassen, und hinten wurde die Wand von einer alten Kulisse eingenommen, die wohl aus irgendeinem Theater stammte.
»Wer ist da?«, rief eine Stimme von oben.
»Jemand.«
Sie hatte sich wohl gerade gewaschen, denn man hörte einen Wasserhahn und Tröpfeln in einem Ausguss. Eine Frau in Morgenrock und Pantoffeln kam die Treppe herunter und sagte:
»Ach, Sie sind es!«
Wie alle in Charenton kannte auch sie Maigret bereits. Sie war einmal hübsch gewesen. Ein wenig dick oder mollig geworden durch dieses Treibhausleben, hatte sie doch einen gewissen lässigen und heiteren Reiz bewahrt.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Schenken Sie uns doch beiden einen Aperitif ein.«
Sie trank Enzian. Sie hatte eine ganz eigene Art, die beiden Ellbogen nahe beieinander auf den Tisch aufzustützen, so dass ihre zusammengepressten Brüste halb aus dem Morgenrock hervorquollen.
»Ich hab schon geahnt, dass Sie kommen würden. Auf Ihr Wohl!«
Sie hatte keine Angst. Die Polizei machte ihr keinen Eindruck.
»Stimmt das, was man sich erzählt?«
»Worüber?«
»Über Bébert. Na ja, vielleicht rede ich zu viel. Und wenn schon! Man kann sich ja über rein nichts mehr sicher sein. Man sagt, es sei der alte Gassin …«
»… der sich die Sache eingebrockt hat?«
»Jedenfalls spricht er so davon, als wüsste er etwas. Noch ein Gläschen?«
»Und Ducrau?«
»Wie?«
»Ist er gestern nicht gekommen?«
»Er kommt oft und leistet mir Gesellschaft. Wir sind alte Freunde, auch wenn er jetzt ein reicher Mann ist. Er ist nicht hochnäsig. Er kommt und setzt sich hin, eben da, wo Sie jetzt sitzen. Dann trinken wir zusammen ein Glas, und von Zeit zu Zeit bittet er mich, ein paar Centimes für die Musik einzuwerfen.«
»Ist er gestern gekommen?«
»Ja. Tanz ist nur samstags und sonntags, manchmal auch montags. An den übrigen Tagen mache ich zwar aus reiner Gewohnheit nicht zu, aber ich bin dann sozusagen ganz allein hier. Als mein Mann noch gelebt hat, war es anders, denn da hatten wir auch Küche.«
»Um welche Zeit ist er weggegangen?«
»Also darauf wollen Sie hinaus! Da liegen Sie falsch, lassen Sie es sich gesagt sein. Ich kenne ihn. Wir mochten uns schon, als er erst seinen einen kleinen Schleppkahn hatte. Und ich weiß nicht, warum, aber er hat nie versucht, von mir mehr zu kriegen. Wo er doch sonst … Das wissen Sie so gut wie ich! Gestern war er
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