Maigret - 29 - Maigret und sein Toter
ziemlich ungenau, und trotzdem haben zwei von fünf Personen den gleichen Eindruck. ›Ich bin nicht sicher‹, sagte der Wirt der ›Caves du Beaujolais‹. ›Es ist schwer zu definieren, aber er erinnert mich an irgendetwas.‹ Aber an was? Filmschauspieler ist er nicht. Nicht einmal Statist. Ein Inspektor ist in allen Studios gewesen. Er ist auch kein Politiker oder Richter …«
»Maigret!«, rief seine Frau aus.
Er zündete sich, ohne in seinen Ausführungen innezuhalten, die Pfeife an und zog, während er sprach, immer wieder an ihr.
»Was meinen Sie, Herr Richter: Welchem Beruf könnten diese Einzelheiten entsprechen?«
»Ich bin kein Freund von Rätseln.«
»Wissen Sie, wenn man zu Hause bleiben muss, hat man Zeit zum Nachdenken. Übrigens hätte ich beinahe das Wichtigste vergessen. Wir haben natürlich in den verschiedensten Kreisen nachgeforscht. Die Radrennen und die Fußballspiele haben nichts ergeben. Ich habe auch alle Inhaber von Wettbüros vernehmen lassen.
Sie kennen ja diese Cafés, in denen man auch Wetten abschließen kann. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte so das Gefühl, dass der Mann in den Wettbüros aus und ein gegangen ist. Es hat aber auch nichts ergeben.«
Maigret hatte eine Engelsgeduld. Es sah aus, als bereite es ihm Freude, das Telefongespräch in die Länge zu ziehen.
»Dagegen hat Lucas bei den Pferderennen mehr Erfolg gehabt. Es hat ja auch lange gedauert … Man kann nicht sagen, dass ihn jemand eindeutig identifiziert hat. Eben wegen der Entstellung im Gesicht … Und dann darf man auch nicht vergessen, dass man die Menschen gewöhnlich lebendig und nicht tot sieht und dass der Tod einen Menschen stark verändert. Trotzdem, auf den Rennplätzen erinnern sich einige an ihn. Er war nicht beruflich dort, sondern als Zuschauer. Nach der Aussage eines Mannes, der mit Renntipps handelt, war er ziemlich oft dort.«
»Und trotzdem hat es nicht ausgereicht, ihn zu identifizieren?«
»Nein, aber das und alles Übrige, was ich Ihnen erzählt habe, erlaubt mir fast mit Sicherheit zu behaupten, dass er in der ›Limonadenbranche‹ war.«
»In der ›Limonadenbranche‹?«
»So heißt es im Branchenjargon, Herr Richter. Dazu gehören die Kellner, Abwäscher, Barkeeper und sogar die Wirte. Es ist ein Fachausdruck, der alles umfasst, was mit Getränken zu tun hat, außer den Speiserestaurants. Haben Sie auch schon bemerkt, dass sich alle Kellner irgendwie ähneln? Ich meine damit nicht, dass sie einander wirklich gleichen, aber es gibt doch eine gewisse Familienähnlichkeit. Hundertmal glaubt man einen Kellner wiederzuerkennen, den man in Wirklichkeit noch nie gesehen hat.
Die meisten von ihnen haben empfindliche Füße, was auch verständlich ist. Sie sollten das mal beobachten. Sie tragen weiche, geschmeidige Schuhe, fast wie Pantoffeln. Nie werden Sie einen Kellner oder einen Oberkellner in Sportschuhen mit dreifachen Sohlen sehen. Auch sind sie von Berufs wegen dran gewöhnt, weiße Hemden zu tragen.
Ich will nicht behaupten, dass es so sein muss, aber ein großer Prozentsatz von ihnen hat einen Entengang. Außerdem haben Kellner aus mir unerklärlichen Gründen eine ausgesprochene Vorliebe für Pferderennen, und viele von ihnen, die früh am Morgen oder nachts arbeiten, gehen häufig zum Rennen.«
»Sie schließen also daraus, dass der Mann Kellner gewesen ist?«
»Nein. Eben nicht.«
»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.«
»Er war in der ›Limonadenbranche‹, war aber kein Kellner. Ich habe, als ich so vor mich hin dämmerte, stundenlang darüber nachgedacht.«
Kein Zweifel, dass der sonst so kühle Richter bei jedem Wort empört auffuhr.
»Alles, was ich Ihnen gerade über die Kellner sagte, gilt genauso für die Kneipenwirte. Halten Sie mich nicht für anmaßend, aber ich habe immer den Eindruck gehabt, dass mein Toter kein Angestellter, sondern selbständig gewesen ist. Deshalb habe ich heute Morgen um elf Uhr mit Moers telefoniert. Das Hemd ist immer noch beim Erkennungsdienst. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, in welchem Zustand es gewesen war. Er hat es noch einmal untersucht. Dabei ist uns der Zufall zu Hilfe gekommen, denn es hätte ebenso gut neu sein können. Jeder zieht irgendwann einmal ein neues Hemd an. Zum Glück ist es aber nicht neu. Am Kragen ist es sogar schon ziemlich abgenutzt.«
»Die Wirte nutzen ihre Hemden wohl vor allem am Kragen ab?«
»Nein, Herr Richter, jedenfalls nicht mehr als andere auch. Aber: Sie nutzen sie nicht
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