Maigret - 29 - Maigret und sein Toter
herumgezeigt und die Kellner ausgefragt hat. Es steht fest, dass der Mann einen Suze bestellte – das allein zeigt schon, dass eine Verwechslung so gut wie ausgeschlossen ist – und einen Briefumschlag verlangt hat. Kein Briefpapier, nur einen Umschlag. Den hat er in die Tasche gesteckt und ist zur Telefonkabine gestürzt, nachdem er sich bei der Kasse eine Münze geholt hatte. Die Verbindung ist zustande gekommen. Die Kassiererin hat das Herunterfallen der Münze gehört.«
»Und Sie haben diesen Anruf nicht bekommen?«
»Nein«, musste Maigret mit einer Art Groll gestehen. »Der Anruf war nicht für uns bestimmt. Er wandte sich an jemand anderen, verstehen Sie? Und was das gelbe Auto betrifft …«
»Haben Sie darüber etwas herausgefunden?«
»Nur ungenaue Hinweise, die jedoch übereinstimmen. Kennen Sie den Quai Henri-IV?«
»Bei der Bastille?«
»Genau. Wie Sie sehen, hat sich alles in ein und derselben Gegend abgespielt, so dass man den Eindruck hat, sich im Kreis zu drehen. Der Quai Henri-IV ist eine der ruhigsten und am wenigsten begangenen Straßen von Paris. Es gibt dort keinen Laden, kein Bistro, nur große Mietshäuser. Ein junger Telegrammbote hat am Mittwochabend, genau um acht Uhr zehn, das gelbe Auto gesehen. Es ist ihm aufgefallen, weil es gerade gegenüber dem Haus Nummer 63, wo er ein Telegramm abgeben musste, eine Panne hatte. Zwei Männer waren über die geöffnete Motorhaube gebeugt.«
»Hat er sie Ihnen beschreiben können?«
»Nein. Es war dunkel.«
»Hat er die Nummer aufgeschrieben?«
»Auch nicht. Die Leute, Herr Richter, denken nur selten daran, die Nummer der Autos aufzuschreiben, die sie bemerken. Wichtig an der Sache ist, dass das Auto in Richtung zum Pont d’Austerlitz stand. Und auch, dass es acht Uhr zehn war, denn durch die Autopsie wissen wir, dass das Verbrechen zwischen acht und zehn Uhr verübt worden ist.«
»Glauben Sie, dass Ihr Gesundheitszustand Ihnen erlauben wird, bald wieder das Haus zu verlassen?«
Der Richter war ein wenig besänftigt, wollte aber nicht nachgeben.
»Ich weiß es nicht.«
»In welche Richtung lenken Sie jetzt die Untersuchung?«
»In gar keine. Ich warte. Es ist das Einzige, was man tun kann, nicht wahr? Wir sind an einem toten Punkt angelangt. Wir – oder vielmehr meine Leute – haben alles getan, was wir konnten. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten.«
»Worauf warten?«
»Auf irgendetwas. Auf das, was kommt. Vielleicht ist es eine Zeugenaussage oder eine neue Tatsache.«
»Glauben Sie, dass das eintreffen wird?«
»Man muss es hoffen.«
»Ich danke Ihnen. Ich werde dem Staatsanwalt über unser Gespräch berichten.«
»Bestellen Sie ihm hochachtungsvolle Grüße.«
»Gute Besserung, Herr Kommissar.«
»Ich danke Ihnen, Herr Richter.«
Als er auflegte, war er vollkommen ernst. Verstohlen beobachtete er Madame Maigret, die ihre Strickarbeit wieder aufgenommen hatte, in deren Zügen er jedoch heimliche Besorgnis las.
»Glaubst du nicht, dass du zu weit gegangen bist?«
»Warum zu weit?«
»Gib zu, dass du nur gescherzt hast.«
»Nicht im Geringsten.«
»Du hast dich ununterbrochen über ihn lustig gemacht.«
»Glaubst du?«
Er schien ehrlich erstaunt zu sein. Im Grunde hatte er das, was er gesagt hatte, sehr ernst gemeint. Alles, was er gesagt hatte, stimmte, auch der Zweifel, den er über seine eigene Krankheit geäußert hatte. Es kam ab und zu vor, dass er sich, wenn eine Untersuchung nicht so voranging, wie er es wollte, ins Bett legte oder zu Hause blieb. Seine Frau verhätschelte ihn dann und ging auf Zehenspitzen. So entging er der Unruhe und dem Kommen und Gehen bei der Kriminalpolizei, den ewigen Fragen und den hundert täglichen Verdrießlichkeiten. Seine Mitarbeiter besuchten ihn oder telefonierten mit ihm. Alle nahmen Rücksicht auf ihn. Man erkundigte sich nach seinem Befinden. Und mit Hilfe einiger Tassen Kräutertee, die er mit verzogenem Gesicht trank, gelang es ihm, Madame Maigret zur Zubereitung einiger Grogs zu bewegen.
Es stimmte, er hatte manches mit seinem Toten gemeinsam. Im Grunde, dachte er plötzlich, war es nicht so sehr der Umzug, der ihn erschreckte, sondern die Tatsache, dass sich damit auch seine Umwelt veränderte. Die Vorstellung, dass er die Worte Lhoste & Pépin beim Erwachen nicht mehr sehen, morgens nicht mehr denselben Weg gehen würde, den er meistens zu Fuß ging …
Sie hingen beide an ihrem Viertel, der Tote und er. Und diese Feststellung machte ihm Freude. Er
Weitere Kostenlose Bücher