Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
ist eben keiner mehr frei, verstehst du, oder er ist bereits mit der Familie verwandt. Jetzt ist sie schon zwei Monate hier. Ich höre, sie wird den ganzen Winter in Paris verbringen.«
»Weiß sie es?«
»Was?«
»Daß man einen Straßen- und Brückenbau-Mann für sie sucht?«
»Klar. Aber das macht ihr keinen Eindruck. Sie ist viel selbständiger, als du dir vorstellen kannst. Du hattest heute keine Zeit, sie richtig zu beurteilen. Am nächsten Freitag mußt du versuchen, länger mit ihr zu sprechen. Wenn du tanzen könntest, wäre alles viel einfacher. Warum nimmst du vorher nicht ein paar Tanzstunden?«
Ich nahm keine Tanzstunde. Zum Glück. Denn was der gute Jubert nicht wußte, war, daß Louise nichts so sehr haßte, wie am Arm eines Kavaliers herumzuhopsen.
Zwei Wochen später ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, dem ich im ersten Augenblick viel Wichtigkeit beimaß. Vielleicht war er sogar wichtig, aber in einem anderen Sinn.
Die jungen Ingenieure, die bei Léonards ein und aus gingen, bildeten einen geschlossenen Klüngel und benutzten unter sich mit Vorliebe Wörter, die nur Mitgliedern ihrer Zunft verständlich waren.
Fand ich sie unausstehlich? Wahrscheinlich ja. Es gefiel mir auch nicht, daß sie mich beharrlich mit ›Polizeikommissar‹ anredeten. Es war zu einem ihrer Spielchen geworden, und ich bekam es allmählich satt.
»He, Kommissar …«, pflegten sie mir durch den ganzen Salon zuzurufen.
An dem bewußten Abend nun, während Jubert und Louise in einer Ecke miteinander plauderten – die Zimmerpflanze, neben der sie standen, sehe ich heute noch vor mir –, trat ein schmächtiger bebrillter Jüngling zu den beiden und ließ mit einem belustigten Blick in meine Richtung eine halblaute Bemerkung fallen.
Etwas später fragte ich meinen Freund:
»Was hat er gesagt?«
Verlegen und ausweichend antwortete er:
»Nichts Besonderes.«
»War’s eine Gemeinheit?«
»Ich erzähle es dir draußen.«
Der bebrillte Jüngling wiederholte sein Manöver bei anderen Gruppen, und jedermann schien sich auf meine Kosten zu amüsieren.
Jedermann außer Louise. Sie schlug an diesem Abend mehrere Einladungen zum Tanz aus und unterhielt sich fast nur mit mir.
Als wir das Haus verließen, knöpfte ich mir Félix vor.
»Was hat er gesagt?«
»Zuerst will ich eine ehrliche Antwort von dir. Was warst du von Beruf, ehe du Sekretär des Kommissars wurdest?«
»Aber … Ich habe bei der Polizei gedient …«
»In Uniform?«
Aha! Das war es also. Der Bebrillte mußte mich wiedererkannt haben, weil er mich in der Uniform eines Stadtpolizisten gesehen hatte.
Und stellen Sie sich jetzt einen Polizisten unter all den Herren vom Straßen- und Brückenbau vor!
»Was hat sie gesagt?« fragte ich mit gepreßter Stimme.
»Sie war großartig. Sie ist immer großartig. Du wirst es zwar nicht glauben, aber du wirst schon sehen …«
Armer alter Jubert!
»Sie hat ihm ins Gesicht gesagt, dir stehe eine Uniform sicher viel besser als ihm.«
Dennoch ging ich am folgenden Freitag nicht an den Boulevard Beaumarchais. Auch Jubert wich ich aus. Er war es, der mir zwei Wochen später einen neuen Anstoß gab.
»Apropos, man hat sich am Freitag deinetwegen gesorgt.«
»Wer ist ›man‹?«
»Madame Léonard. Sie wollte wissen, ob du krank seist.«
»Ich war sehr beschäftigt.«
Ich war eigentlich sicher, Madame Léonard hatte nur deshalb von mir gesprochen, weil ihre Nichte …
Ach was! Wozu sich in Einzelheiten verlieren! Es fällt mir schon schwer genug zu verhindern, daß am Ende noch alles, was ich hier geschrieben habe, in den Papierkorb wandert.
Fast drei Monate lang hat Jubert seine Rolle gespielt und nichts gemerkt. Wir haben übrigens auch nicht im geringsten versucht, ihm etwas zu verheimlichen. Wie immer holte er mich im Hotel ab, wie immer band er meinen Schlips, weil er fand, ich wisse mich nicht korrekt zu kleiden. Er war es auch, der mich tadelte, wenn er mich allein in einer Ecke des Salons stehen sah.
»Du solltest dich um Louise kümmern. Du bist unhöflich.«
Und er war es, der beim Fortgehen ständig wiederholte:
»Du irrst dich, wenn du glaubst, du interessierst sie nicht. Im Gegenteil, sie hat dich sehr gern. Sie fragt mich immer über dich aus.«
Um Weihnachten herum hat sich die schielende Freundin mit dem Klavierspieler verlobt, und danach hat man die beiden nicht mehr am Boulevard Beaumarchais gesehen.
Ich weiß nicht, ob Louise die anderen zu entmutigen begann oder ob wir weniger
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