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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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hing.
    Von innen hörten wir gedämpfte Stimmen und Gelächter, mit jener schrillen Note dazwischen, die den Stimmungsgrad einer Gesellschaft anzeigt.
    Eine Zofe in weißer Schürze öffnete die Tür. Félix reichte ihr seinen Mantel.
    »Guten Abend, Clémence«, sagte er, überglücklich, daß er sich vor mir als alter Hausgast aufspielen konnte.
    »Guten Abend, Monsieur Félix.«
    Der Salon war ziemlich groß, aber nicht sehr hell erleuchtet. Die Wände waren mit dunklen Stofftapeten bespannt, und durch eine hohe Glastür blickte man in einen Nebenraum, wo die Möbel an die Wand gerückt worden waren, um fürs Tanzen Platz zu schaffen.
    In der Pose des Beschützers geleitete Jubert mich zu einer weißhaarigen Dame, die am Kamin saß.
    »Darf ich Ihnen meinen Freund Maigret vorstellen? Ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen von ihm zu erzählen, und er brennt förmlich darauf, Ihnen persönlich seine Aufwartung zu machen.«
    Er mußte das auf der ganzen Herfahrt auswendig gelernt haben und konnte jetzt nur hoffen, ich würde korrekt grüßen, nicht allzu unbeholfen dastehen und ihm alles in allem zur Ehre gereichen.
    Die alte Dame sah entzückend aus mit ihrer zierlichen Gestalt, den feinen Zügen, dem ausdrucksvollen Gesicht, aber sie brachte mich aus der Fassung, als sie lächelnd fragte:
    »Warum sind Sie nicht auch beim Amt für Straßen- und Brückenbau tätig? Anselme wird sicher enttäuscht sein.«
    Sie hieß Géraldine. Ihr Gatte Anselme saß in einem anderen Lehnstuhl, und zwar so reglos, als hätte man ihn in einem Stück dorthin getragen, um ihn zur Schau zu stellen wie eine Wachsfigur. Später wurde mir gesagt, er habe die Achtzig weit überschritten, und auch Géraldine sei schon achtzig geworden.
    Jemand spielte leise Klavier, ein dicklicher Jüngling in einem prall sitzenden Frack. Eine junge Dame in Hellblau drehte die Notenblätter um. Ich sah sie nur von hinten. Als man mich ihr vorstellte, wagte ich nicht, ihr ins Gesicht zu sehen, so sehr verwirrte mich das Gefühl, überhaupt hier zu sein und nicht zu wissen, was ich sagen oder wie ich mich verhalten sollte.
    Getanzt wurde noch nicht. Auf einem Tischchen stand eine Schüssel mit Konfekt, und nach einiger Zeit, da Jubert mich meinem Schicksal überließ, trat ich näher, ich weiß heute noch nicht warum, sicher nicht aus Gier, denn hungrig war ich nicht, und Kekse habe ich nie gemocht. Vielleicht wollte ich mir Haltung geben.
    Mechanisch griff ich nach einem Keks. Dann nach einem zweiten. Jemand zischte:
    »Psst! …«
    Darauf begann ein anderes junges Mädchen, eines in Rosa, das ein wenig schielte, zu singen. Es stand neben dem Klavier. Mit einer Hand stützte es sich auf das Instrument, mit der anderen bewegte es einen Fächer.
    Ich aß weiter. Ich merkte es nicht. Noch weniger merkte ich, daß die alte Dame mich verwundert beobachtete, daß allmählich auch andere auf mein sonderbares Gebaren aufmerksam wurden und mich unverwandt anstarrten.
    Einer der Jünglinge machte eine halblaute Bemerkung zu seinem Nachbarn, und wieder zischte jemand:
    »Psst!«
    Die jungen Mädchen konnte man an den hellen Tupfen inmitten der schwarzen Fräcke erkennen. Ich zählte vier. Jubert soll an jenem Abend vergeblich versucht haben, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war ihm entsetzlich peinlich zu sehen, wie ich einen Keks um den anderen aus der Schüssel fischte und andächtig verzehrte. Später hat er mir gestanden, ich hätte ihm leid getan, er sei überzeugt gewesen, ich hätte noch nicht zu Abend gegessen.
    Andere müssen dasselbe gedacht haben. Das Lied war zu Ende. Das Mädchen in Rosa verneigte sich, und alles klatschte. Da erst wurde mir klar, daß ich es war, auf dem aller Augen ruhten, ich, der ich da neben dem Tischchen stand, mit vollem Mund, einen Keks in der Hand.
    Ich war drauf und dran, ohne ein Wort der Entschuldigung fortzugehen, den Rückzug anzutreten, buchstäblich die Flucht zu ergreifen aus dieser Wohnung voll Menschen, die mir so ganz und gar fremd waren.
    In diesem Augenblick entdeckte ich im Halbdunkel ein Gesicht, das Gesicht des Mädchens in Blau, und auf diesem Gesicht einen Ausdruck, sanft, beruhigend, beinahe vertraut. Es war, als ob es alles verstanden hätte und mir Mut machen wollte.
    Die Zofe brachte Erfrischungen herein. Nachdem ich im unpassenden Moment so viel gegessen hatte, wagte ich jetzt nicht einmal mehr das angebotene Glas zu ergreifen.
    »Louise, du könntest doch die Kekse herumreichen.«
    So erfuhr ich,

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