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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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sondern aus ganz prosaischen Gründen.
    Genauer, aus zwei Gründen. Erstens verdienten wir gerade soviel, daß wir uns über Wasser halten konnten, wie man so sagt. Ich höre oft von dem lustigen, sorglosen Leben reden, das man zu Beginn dieses Jahrhunderts führte. Die Jungen erwähnen voll Neid die Preise in jener Zeit, die Havannazigarre zu zwei Sous das Stück, die Dîners zu zwanzig Sous, Wein und Kaffee inbegriffen.
    Was sie vergessen, ist, daß ein Beamter zu Beginn seiner Laufbahn etwas weniger als hundert Francs verdiente.
    Als ich noch Streifendienst machte, legte ich im Verlauf eines Arbeitstages – und das hieß oft soviel wie dreizehn oder vierzehn Arbeitsstunden – bei jedem Wetter ungezählte Kilometer auf dem Gehsteig zurück.
    Deshalb ist das Neubesohlen der Schuhe eines unserer ersten Eheprobleme gewesen. Wenn ich meiner Frau jeweils am Monatsende meine Lohntüte aushändigte, teilte sie deren Inhalt immer in mehrere Häufchen ein.
    »Für den Fleischer … die Miete … das Gas …«
    Für das letzte Häuflein blieb fast nichts übrig:
    »Für deine Schuhe.«
    Immer träumten wir davon, ein Paar neue zu kaufen, doch lange blieb es ein Traum. Ich verschwieg ihr oft wochenlang, daß die durchgewetzten Sohlen gierig das Regenwasser zwischen den Nägeln aufsogen.
    Ich erzähle das nicht, weil ich jemandem etwas nachtrage, im Gegenteil, ich finde es lustig, und ich glaube, es ist notwendig, damit man sich vom Leben eines Polizisten ein Bild machen kann.
    Taxis gab es keine, und selbst wenn sie die Straßen verstopft hätten, wären sie für uns so unerreichbar geblieben wie die Mietdroschken, die wir nur in allerseltensten Fällen benutzten.
    Im übrigen bestand unsere Aufgabe bei der Streife ja gerade darin, daß wir die Straßen abschritten, uns unter die Fußgänger mischten, von früh bis spät und von spät bis früh.
    Warum muß ich vor allem an Regen denken, wenn ich auf jene Zeit zurückblicke? Als hätte es jahrelang immer nur geregnet, als wären die Jahreszeiten damals nicht die gleichen gewesen wie heute. Das kommt offenbar daher, daß der Regen uns zusätzliche Prüfungen auferlegte. Nicht nur die Socken wurden naß. Da war auch der Mantel, dessen Schulterpartien sich in kalte Kompressen verwandelten, da war der ewig triefende Hut, da waren die blaugefrorenen Hände, die man tief in den Taschen vergrub.
    Die Straßen waren nicht so hell erleuchtet wie heute. In den Außenbezirken gab es welche, die waren nicht einmal gepflastert. Am Abend malten die Fenster blaßgelbe Vierecke ins Dunkel, denn die meisten Häuser wurden noch von Petrollampen erhellt, wenn nicht gar von armseligen Kerzen.
    Dazu kamen die ›Apachen‹.
    Rings um die alten Stadtmauern war es Mode geworden, daß man nachts den Messerhelden spielte, und zwar nicht immer nur um des Profits, der Brieftasche oder Uhr des braven Bürgers willen.
    Man wollte vor allem sich selbst beweisen, daß man ein Mann war, ein ›Schrecken‹. Man wollte den kleinen Strichmädchen imponieren, die plissierte schwarze Röcke und dicke Haarknoten trugen, wenn sie unter den Gaslaternen auf Freier warteten.
    Wir waren nicht bewaffnet. Es stimmt nicht, daß, wie viele Leute glauben, ein Polizeibeamter in Zivil das Recht hat, mit einem Revolver in der Tasche umherzulaufen, und wenn wir in gewissen Fällen einen auf uns tragen, so verstoßen wir gegen die Vorschriften und tragen die volle Verantwortung dafür.
    So etwas konnten sich die jungen Beamten nicht leisten. Und es gab in der Gegend von La Villette, Ménilmontant und der Porte d’Italie eine Anzahl Straßen, die wir nur ungern betraten und wo uns der Lärm unserer eigenen Schritte bisweilen Herzklopfen verursachte.
    Auch das Telefon ist für unser Haushaltsbudget lange unerschwinglich geblieben. Meine Frau anzurufen, wenn ich mich um mehrere Stunden verspätete, kam nicht in Frage, so daß sie ganze einsame Abende lang unter der Auergaslampe im Eßzimmer auf die Geräusche im Treppenhaus horchen und vier-, fünfmal das gleiche Essen aufwärmen mußte.
    Was den berühmten Schnurrbart auf den Karikaturen betrifft, so entsprach auch er der Wirklichkeit. Wer keinen trug, wurde schlicht und einfach für einen Hausdiener gehalten.
    Der meine war lang, mahagonifarben, etwas dunkler als der Schnurrbart meines Vaters, mit aufwärts gebogenen Enden. Im Lauf der Zeit wurde er immer kürzer, bis er nicht viel mehr als eine Zahnbürste war und schließlich ganz verschwand.
    Im übrigen trifft es zu,

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