Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
mehrere Wochen nicht gesehen haben. Ich hätte ihn überhaupt nicht mehr treffen können. Ich hatte ihm meine Adresse nicht gegeben. Ich wußte nicht, wo er wohnte. Es kam mir nicht in den Sinn, vor seiner Apotheke auf ihn zu warten.
Wieder war es der Zufall, der unsere zweite Begegnung herbeiführte, am Eingang zum Théâtre Français, wo wir beide Schlange standen.
»Wie blöd wir waren«, sagte er mir. »Ich dachte schon, ich hätte dich aus den Augen verloren. Ich weiß ja nicht einmal, in welchem Kommissariat du arbeitest. Ich habe meinen Freunden von dir erzählt.«
Wenn man ihn von diesen Freunden sprechen hörte, hätte man denken können, es handle sich um einen höchst exklusiven Kreis, fast eine Geheimsekte.
»Du hast doch einen Frack?«
»Ja.«
Ich sah nicht ein, weshalb ich hätte erklären sollen, daß es der Frack meines Vaters war, den ich nach meinen Maßen hatte ändern lassen, weil er schon etwas altmodisch gewesen war. Mein Vater hatte ihn zu seiner Trauung getragen.
»Am Freitag nehme ich dich mit. Halte dir den Abend ab acht Uhr unbedingt frei. Kannst du tanzen?«
»Nein.«
»Macht nichts. Es wäre aber besser, du würdest ein paar Tanzstunden nehmen. Ich weiß von einem guten Kurs, nicht teuer. Habe ihn selber besucht.«
Diesmal notierte er sich meine Adresse und auch diejenige des kleinen Restaurants, wo ich an dienstfreien Abenden zu essen pflegte. Und am Freitagabend saß er in meinem Zimmer auf dem Bett, während ich mich ankleidete.
»Ich muß dir noch ein paar Dinge erklären, damit du keinen Faux-pas begehst. Du und ich gehören als einzige Gäste nicht dem Amt für Straßen- und Brückenbau an. Ein entfernter Vetter von mir, dem ich zufällig begegnet bin, hat mich dort eingeführt. Monsieur und Madame Léonard sind reizend. Ihre Nichte ist das entzückendste junge Mädchen, das du dir vorstellen kannst.«
Ich habe sofort begriffen, daß er in die Nichte verliebt war und mich jetzt fast mit Gewalt mitschleppte, nur weil er mir den Gegenstand seiner Leidenschaft vorführen wollte.
»Es werden noch andere da sein, keine Angst«, sagte er vielversprechend. »Sehr sympathische Mädchen.«
Da es regnete, und weil es sehr darauf ankam, daß wir uns nicht beschmutzten, hatten wir eine Droschke genommen, die erste, die ich in Paris aus anderen als beruflichen Gründen benutzt habe. Ich sehe heute noch unsere weißen gestärkten Hemdbrüste aufleuchten, wenn wir an einer Gaslaterne vorbeifuhren. Und ich sehe wieder, wie Félix Jubert vor einem Blumenladen anhalten ließ, damit wir unsere Knopflöcher zieren konnten.
»Der alte Monsieur Léonard«, erklärte er mir, »oder Anselme, wie wir ihn nennen, hat sich vor zehn Jahren zur Ruhe gesetzt. Vorher war er einer der höchsten Beamten in der Straßen- und Brückenbau-Verwaltung. Und noch heute kommen seine Nachfolger hin und wieder zu ihm, um ihn um Rat zu fragen. Auch der Vater seiner Nichte ist im Amt für Straßen- und Brückenbau tätig. Und sozusagen die ganze übrige Familie.«
So wie Jubert von diesem Amt sprach, klang es, als sei es für ihn etwas wie ein verlorenes Paradies und als hätte er alles darum gegeben, wenn auch er sich dort eine Laufbahn hätte schaffen können, anstatt kostbare Jahre mit dem Medizinstudium zu vertrödeln.
»Du wirst sehen!«
Und ich sah. Die Wohnung lag am Boulevard Beaumarchais, nicht weit von der Place de la Bastille entfernt, in einem schon etwas verwitterten, aber geräumigen und ein bißchen überladen wirkenden Haus. Im dritten Stock waren sämtliche Fenster hell erleuchtet, und aus Juberts vielsagendem Blick beim Aussteigen schloß ich, daß dies der Schauplatz der verheißenen Lustbarkeiten sein mußte.
Mir war nicht sehr wohl in meiner Haut. Ich bereute, daß ich mich zum Mitkommen hatte überreden lassen. Der Hemdkragen mit den steifen Enden störte mich; ich hatte das Gefühl, meine Krawatte verrutsche fortwährend und einer meiner Frackschöße sei ständig im Begriff, wie ein Hahnenkamm emporzuschnellen.
Die Treppe war spärlich beleuchtet. Ein karminroter Läufer bedeckte die Stufen. Ich fand ihn prunkvoll. Und die Fenster im Treppenhaus waren aus buntem Glas, was für mich noch lange der Inbegriff des raffinierten Geschmacks bleiben sollte.
Jubert hatte sein Pustelgesicht noch dicker als sonst mit Salbe bestrichen, und das verlieh ihm, ich weiß nicht warum, einen violetten Schimmer. Andächtig zog er an dem geknoteten Ende einer Klingelschnur, die neben einer Tür
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