Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
für ihn anders aus, und die Passanten schienen ihm langsamer, farbloser zu sein als anderswo.
Ebenso langweilig, ja vielleicht noch langweiliger und farbloser war das Bibliotheksgebäude. Es war schlecht beleuchtet und stumm wie eine leere Kirche. Um diese Stunde waren nur drei oder vier Leser da, Stammkunden wahrscheinlich, die in verstaubten Schmökern blätterten.
Antoinette Ollivier, Madame Gouins Schwester, beobachtete ihn, als er näherkam. Sie war fünfzig Jahre alt, wirkte aber älter und hatte die ein wenig verächtliche Selbstsicherheit mancher Frauen, die sich im Besitz sämtlicher Wahrheiten wähnen.
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
»Ich habe Sie gleich nach Ihren Fotos erkannt.«
Sie sprach halblaut; auch das erinnerte ihn an eine Kirche. Als sie ihm aber einen Stuhl neben dem mit grünem Tuch überzogenen Tisch anbot, hatte er eher das Gefühl, sich in einer Schule zu befinden. Sie war rundlicher als ihre Schwester Germaine, aber dieses Fett schien leblos zu sein, und ihre Haut war fahl wie die Haut mancher Nonnen.
»Ich nehme an, dass Sie gekommen sind, um mir Fragen zu stellen.«
»Sie täuschen sich nicht. Ihre Schwester sagte mir, Sie hätten sie gestern abend besucht.«
»Ja, das stimmt. Ich kam gegen halb neun und ging um halb zwölf, gleich nachdem die Person kam – Sie wissen schon, wen ich meine.«
Es mußte für sie der Gipfel der Verachtung sein, daß sie den Namen ihres Schwagers nicht über die Lippen brachte, und das Wort »Person«, dessen Silben sie einzeln aussprach, schien sie besonders zu befriedigen.
»Verbringen Sie den Abend oft bei Ihrer Schwester?«
Aus irgendeinem Grunde mußte Maigret annehmen, daß sie auf der Hut war und daß es noch schwieriger sein würde, sie zum Reden zu bringen als die Concierge oder Madame Brault. Wenn die anderen vorsichtige Antworten gaben, so deshalb, weil sie dem Professor nicht schaden wollten. Diese Frau hier aber fürchtete nichts mehr, als ihn reinzuwaschen.
»Selten«, meinte sie bedauernd.
»Heißt das, alle sechs Monate einmal oder einmal im Jahr oder alle zwei Jahre einmal?«
»Einmal im Jahr vielleicht.«
»Hatten Sie sich mit ihr verabredet?«
»Mit der eigenen Schwester verabredet man sich nicht.«
»Sie sind also hingegangen, ohne zu wissen, ob sie zu Hause war? Haben Sie ein Telefon in Ihrer Wohnung?«
»Ja.«
»Und Sie haben sie nicht angerufen?«
»Sie hat mich angerufen.«
»Und Sie gebeten, sie zu besuchen?«
»So war es nicht ganz. Sie hat sich nach Verschiedenem erkundigt.«
»Wonach zum Beispiel?«
»Vor allem nach der Familie. Sie schreibt fast nie. Ich habe mehr Kontakt mit den übrigen Geschwistern.«
»Hat sie Ihnen dann gesagt, daß sie Sie gern sehen würde?«
»So ungefähr. Sie hat mich gefragt, ob ich frei sei.«
»Wie spät war es da?«
»Etwa halb sieben. Ich war eben nach Hause gekommen und dabei, mein Abendessen zuzubereiten.«
»Waren Sie nicht überrascht?«
»Nein. Ich habe mich nur vergewissert, dass er nicht zu Hause war. Was hat er Ihnen denn erzählt?«
»Sie sprechen von Professor Gouin?«
»Ja.«
»Bis jetzt habe ich ihm noch keine Fragen gestellt.«
»Weil Sie sich nicht vorstellen können, daß er schuldig ist … Weil er ein berühmter Chirurg ist, Mitglied der Akademie, weil …«
Sie sprach nicht lauter als zuvor, aber ihre Stimme bebte.
»Wie war das«, unterbrach er sie, »als Sie in die Avenue Carnot kamen?«
»Ich bin hinaufgegangen, habe meine Schwester auf die Wange geküßt und Mantel und Hut abgelegt.«
»Wo hielten Sie sich auf?«
»In dem kleinen Raum neben Germaines Zimmer, den sie ihr Boudoir nennt. Der große Salon ist zu düster und wird kaum benutzt.«
»Und was taten Sie?«
»Was zwei Schwestern in unserem Alter eben tun, wenn sie einander nach Monaten wiedersehen: Wir haben geplaudert. Ich habe ihr das Neueste von unseren Verwandten berichtet, vor allem von François, einem unserer Neffen, der vor einem Jahr die Priesterweihe empfangen hat und jetzt als Missionar nach Kanada gehen soll.«
»Haben Sie dabei etwas getrunken?«
Sie war von dieser Frage so überrascht, ja schockiert, daß sich ihre Wangen leicht röteten.
»Zuerst haben wir eine Tasse Kaffee getrunken.«
»Und dann?«
»Dann habe ich ein paarmal geniest und zu meiner Schwester gesagt, daß ich befürchte, mir beim Aussteigen aus der Metro einen Schnupfen geholt zu haben. Es war erstickend heiß drin gewesen, und bei meiner Schwester war es ebenfalls zu
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