Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
festzustellen, was er den ganzen Tag über gemacht hat.«
»Haben Sie es getan?«
Jetzt war es Maigret, der fast errötete.
»Noch nicht.«
»Sehen Sie! Holen Sie das bitte nach. Das ist vermutlich gescheiter, als einen jungen Burschen, der nichts verbrochen hat, zu hetzen.«
»Sie hassen den Professor?«
»Ihn und alle seinesgleichen!«
Sie sagte es so heftig, daß die drei Leser gleichzeitig von ihren Büchern aufsahen.
»Sie vergessen Ihren Hut!«
»Ich dachte, ich hätte ihn im Flur gelassen.«
Sie zeigte mit spitzem Finger auf die grüne Tischdecke, auf der ein Männerhut lag: in ihren Augen etwas ganz und gar Ungehöriges.
6
Theoretisch gesehen hatte Antoinette gar nicht so unrecht.
Als Maigret das im Faubourg Saint-Jacques gelegene Krankenhaus Cochin betrat, hatte Etienne Gouin es bereits verlassen, um sich in Begleitung seiner Assistentin in die Klinik Saint-Joseph in Passy zu begeben. Der Kommissar war darauf gefaßt gewesen, denn es war elf Uhr vorbei. Er war nicht gekommen, weil er gehofft hatte, den Professor zu treffen. Ohne daß er sich hätte erklären können warum, hatte er im Grunde noch gar keine Lust, diesem Mann gegenüberzutreten.
Gouins Abteilung lag im zweiten Stock, und Maigret mußte lange mit dem Sekretariat verhandeln, bevor man ihm die Erlaubnis gab hinaufzugehen. In dem langen Flur herrschte viel mehr Leben als er angenommen hatte, und die Krankenschwestern sahen müde und gereizt aus. Die Schwester, an die er sich wandte, kam gerade aus einem der Krankensäle; sie wirkte weniger hektisch als die anderen; es war eine Frau mittleren Alters, deren Haar bereits weiß war.
»Sind Sie die Oberschwester?«
»Ja, aber ich bin nur tagsüber hier.«
Er stellte sich vor und fügte hinzu, daß er ihr ein paar Fragen zu stellen wünsche.
»In welchem Zusammenhang?«
Er zögerte, ihr zu sagen, daß es sich um den Professor handelte. Sie hatte ihn bis zur Tür eines kleinen Büros geführt, bat ihn jedoch nicht hinein.
»Ist dort am Ende des Flurs der Operationssaal?«
»Einer der Operationssäle, ja.«
»Wie ist das eigentlich, wenn ein Chirurg einen Teil der Nacht im Krankenhaus verbringt?«
»Ich verstehe nicht. Sie meinen, wenn ein Chirurg soeben eine Operation vorgenommen hat?«
»Nein. Wenn ich nicht irre, kommt es vor, daß sie aus anderen Gründen hierbleiben, zum Beispiel, wenn sie Komplikationen befürchten oder das Ergebnis eines Eingriffs abwarten wollen.«
»Das kommt vor. Und?«
»Wo halten sie sich dann auf?«
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Es hängt davon ab, wie lange sie bleiben. Wenn sie nur kurze Zeit warten müssen, setzen sie sich in mein Büro, oder sie gehen hier im Flur auf und ab. Wenn sie aber ein paar Stunden lang warten müssen, um im Notfall sofort eingreifen zu können, gehen sie zu den Assistenzärzten hinauf, wo ihnen zwei, drei Zimmer zur Verfügung stehen.«
»Kommt man über die Treppe dorthin?«
»Über die Treppe oder mit dem Fahrstuhl. Die Zimmer sind im vierten Stock. Sie ruhen sich meistens dort aus, bis man sie ruft.«
Sie fragte sich offensichtlich, worauf er hinauswollte. Die Zeitungen hatten Gouins Namen nicht im Zusammenhang mit Lulus Ermordung genannt. Es war anzunehmen, daß man hier von seinen Beziehungen zu Pierrots Freundin nichts wußte.
»Ich kann jetzt wohl mit niemandem sprechen, der vorgestern abend Dienst hatte?«
»Nach acht, meinen Sie?«
»Ja. Ich hätte eigentlich sagen sollen: in der Nacht von Montag auf Dienstag.«
»Die Schwestern, die jetzt hier sind, sind in derselben Lage wie ich. Sie haben nur tagsüber Dienst. Aber vielleicht hat einer von den Assistenzärzten gerade Dienst gehabt. Warten Sie einen Augenblick.«
Sie ging in zwei oder drei Säle hinein und kam schließlich mit einem großen, knochigen jungen Mann zurück, der rotes Haar hatte und eine Brille mit dicken Gläsern trug.
»Jemand von der Polizei«, stellte sie vor und ging, ohne die beiden hineinzubitten, in ihr Büro, wo sie sich hinsetzte.
»Kommissar Maigret«, ergänzte dieser.
»Ich dachte doch, ich hätte Sie erkannt. Sie wünschen eine Auskunft?«
»Waren Sie in der Nacht von Montag auf Dienstag hier?«
»Einen Großteil der Nacht, ja. Montag nachmittag hat der Professor ein Kind operiert. Es war ein schwieriger Fall, und er hat mich gebeten, den Patienten nicht aus den Augen zu lassen.«
»Ist er nicht selbst hierhergekommen?«
»Er hat fast den ganzen Abend hier verbracht.«
»Hielt er sich im selben Stock
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