Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
warm.«
»Waren die Dienstboten in der Wohnung?«
»Sie haben uns gegen neun gute Nacht gesagt und sind dann beide hinaufgegangen. Meine Schwester hat seit zwölf Jahren dieselbe Köchin. Die Dienstmädchen wechseln öfter, aus erklärlichen Gründen.«
Er erkundigte sich nicht weiter nach diesen Gründen. Er hatte verstanden.
»Sie haben also geniest …«
»Germaine hat vorgeschlagen, uns einen Grog zu machen, und ist in die Küche gegangen.«
»Was taten Sie inzwischen?«
»Ich las einen Artikel in einer Zeitschrift, in dem von dem Dorf die Rede war, aus dem wir stammen.«
»Blieb Ihre Schwester lange fort?«
»So lange, wie zwei Gläser Wasser zum Kochen brauchen.«
»Wenn Sie sonst zu ihr kamen, warteten Sie da die Rückkehr Ihres Schwagers ab, bevor Sie weggingen?«
»Ich vermeide es möglichst, ihm zu begegnen.«
»Waren Sie überrascht, als Sie ihn hereinkommen sahen?«
»Meine Schwester hatte mir versichert, er würde nicht vor Mitternacht zurück sein.«
»Wie war er?«
»Wie immer. Wie ein Mensch, der sich über alle Moral und allen Anstand erhaben dünkt.«
»Ist Ihnen an ihm nichts Besonderes aufgefallen?«
»Ich habe mir die Mühe erspart, ihn anzuschauen. Ich habe meinen Hut aufgesetzt, den Mantel angezogen und die Tür hinter mir zugeschlagen.«
»Haben Sie im Laufe des Abends nichts gehört, was wie ein Schuß klang?«
»Nein. Bis gegen elf hat jemand im oberen Stockwerk Klavier gespielt. Chopin.«
»Wußten Sie, daß die Geliebte Ihres Schwagers schwanger war?«
»Das überrascht mich nicht.«
»Hat Ihnen Ihre Schwester davon erzählt?«
»Sie hat das Mädchen mit keinem Wort erwähnt.«
»Auch früher nicht?«
»Nein.«
»Aber Sie wußten trotzdem Bescheid?«
Sie errötete wieder.
»Sie muß irgendwann einmal eine Anspielung gemacht haben, ganz am Anfang, als er sie im Haus untergebracht hat.«
»Machte sie sich Gedanken darüber?«
»Jeder hat seine eigenen Anschauungen. Man lebt nicht ungestraft jahrelang mit so einer Kreatur zusammen – das färbt ab.«
»Mit anderen Worten, Ihre Schwester machte ihm keine Vorwürfe wegen seiner Liaison und nahm es ihm auch nicht übel, daß er Louise Filon ins Haus gebracht hatte?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Diese Frage hätte er nur schwer beantworten können. Er hatte das Gefühl, tiefer und tiefer zu graben, ohne zu wissen, worauf er schließlich stoßen würde. Er wollte unbedingt ein deutlicheres Bild von Lulu und den Menschen gewinnen, die mit ihr in Kontakt gestanden hatten.
Sie wurden von einem jungen Mann gestört, der Bücher verlangte, und Antoinette ließ den Kommissar fünf oder sechs Minuten allein. Als sie zurückkam, hatte sie einen neuen Vorrat an Haß gegen ihren Schwager gesammelt, und ohne Maigret zu Wort kommen zu lassen, sagte sie:
»Wann werden Sie ihn verhaften?«
»Glauben Sie, daß er Louise Filon ermordet hat?«
»Wer sollte es sonst sein?«
»Ihr Geliebter Pierrot zum Beispiel.«
»Aus welchem Grund sollte er es getan haben?«
»Aus Eifersucht, oder weil sie mit ihm brechen wollte.«
»Und der andere? Glauben Sie vielleicht, daß er nicht eifersüchtig war? Glauben Sie, daß ein Mann in seinem Alter nicht aus der Haut fährt, wenn er sieht, daß ein Mädchen ihm einen jungen Burschen vorzieht? Und wenn er es war, mit dem sie brechen wollte?«
Sie schien ihn hypnotisieren zu wollen, um ihm die Schuld des Professors möglichst nachdrücklich einzuhämmern.
»Wenn Sie ihn besser kennten, würden Sie einsehen, daß er nicht der Mann ist, der sich zweimal besinnt, bevor er einen Menschen ins Jenseits befördert.«
»Ich glaubte im Gegenteil, daß er sein ganzes Leben der Aufgabe geweiht hat, Menschenleben zu retten …«
»Aus Eitelkeit! Um den Leuten zu zeigen, daß er der größte Chirurg aller Zeiten ist. Der Beweis dafür ist, daß er nur die schwierigsten Operationen vornehmen will.«
»Vielleicht weil mit den leichteren Fällen auch andere fertig werden?«
»Sie verteidigen ihn, ohne ihn zu kennen!«
»Ich versuche ihn zu verstehen.«
»So kompliziert ist das doch gar nicht!«
»Sie vergessen, daß nach dem Gutachten des Gerichtsarztes, der sich selten irrt, der Mord vor elf Uhr verübt wurde. Es war aber schon nach elf, als die Concierge den Professor zurückkommen hat sehen, und außerdem ist er direkt in den fünften Stock hinaufgefahren.«
»Woher wissen Sie, daß er nicht schon vorher einmal zurückgekommen ist?«
»Ich nehme an, es wird nicht schwer sein, im Krankenhaus
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