Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
auf wie Sie?«
»Er ist kurz nach acht gekommen, in Begleitung seiner Assistentin. Wir sind zusammen zu dem Kranken hineingegangen und ziemlich lange bei ihm geblieben; wir warteten auf etwas, das nicht eintrat. Die medizinischen Einzelheiten werden Sie ja kaum interessieren?«
»Ich würde wahrscheinlich nichts davon verstehen. Wie lange sind Sie bei dem Kranken geblieben? Eine Stunde? Oder zwei Stunden?«
»Eine knappe Stunde. Mademoiselle Decaux bestand darauf, daß sich der Professor ausruhte, weil er in der vorhergegangenen Nacht einen dringenden Fall operiert hatte. Schließlich ist er hinaufgegangen, um sich einen Augenblick hinzulegen.«
»Was hatte er an?«
»Da er nicht damit rechnete, noch operieren zu müssen – was übrigens auch nicht der Fall war –, behielt er seinen Straßenanzug an.«
»Hat Ihnen Mademoiselle Decaux inzwischen Gesellschaft geleistet?«
»Ja. Wir haben miteinander geplaudert; kurz vor elf ist der Professor wieder heruntergekommen. Inzwischen hatte ich alle Viertelstunden nach dem Patienten gesehen. Wir sind dann noch einmal zusammen zu ihm gegangen. Er schien außer Gefahr zu sein, und der Professor entschloß sich, nach Hause zu fahren.«
»Mit Mademoiselle Decaux?«
»Sie kommen und gehen fast immer zusammen.«
»So daß Gouin also von Viertel vor neun bis elf Uhr allein im vierten Stock geblieben ist?«
»Jedenfalls allein in seinem Zimmer. Ich verstehe nicht, warum Sie diese Fragen stellen …«
»Hätte er hinuntergehen können, ohne von Ihnen gesehen zu werden?«
»Ja, über die Treppe.«
»Hätte er auch unten am Schalter unbemerkt vorbeigehen können?«
»Das ist möglich. Das Kommen und Gehen der Ärzte wird kaum beachtet, schon gar nicht bei Nacht.«
»Ich danke Ihnen. Darf ich Ihren Namen wissen?«
»Mansuy. Raoul Mansuy.«
Das war es, worin Madame Gouins Schwester nicht ganz unrecht hatte. Theoretisch hätte Gouin das Krankenhaus tatsächlich verlassen, sich in die Avenue Carnot fahren lassen und wieder zurückkehren können, ohne daß jemand dies bemerkt hätte.
»Ich darf wohl nicht wissen, weshalb …«, begann der Assistenzarzt, als Maigret bereits im Begriff war, zu gehen.
Der Kommissar schüttelte den Kopf, ging die Treppe hinunter, überquerte den Hof und fand draußen vor dem Eingang den kleinen schwarzen Wagen und den Chauffeur der Kriminalpolizei wieder. Als er am Quai des Orfèvres eintraf, vergaß er, wie gewöhnlich einen Blick durch die Glasscheiben des Warteraums zu werfen. Bevor er sein Arbeitszimmer betrat, ging er noch in das Büro der Inspektoren, wo Lucas sich sofort erhob, um Bericht zu erstatten.
»Ich habe Bescheid aus Béziers.«
Maigret hatte Louise Filons Vater beinahe vergessen.
»Der Mann ist vor drei Jahren an einer Leberzirrhose gestorben. Vorher hat er zeitweise im Städtischen Schlachthof gearbeitet.«
Auf Louises Hinterlassenschaft – sofern es überhaupt eine gab – hatte bisher noch niemand Anspruch erhoben.
»Ein gewisser Louis wartet seit einer halben Stunde im Vorzimmer auf Sie.«
»Ein Musiker?«
»Ich glaube, ja.«
»Führ ihn in mein Büro.«
Maigret ging in sein Büro, legte Hut und Mantel ab, setzte sich auf seinen gewohnten Platz und griff nach einer der Pfeifen, die schön geordnet auf der Schreibunterlage vor ihm lagen. Einige Augenblicke später wurde der Akkordeonspieler hereingeführt, der sich, bevor er sich hinsetzte, mißtrauisch umsah, als ob er eine Falle erwartete.
»Du kannst uns allein lassen, Lucas.«
Und, zu Louis gewandt:
»Wenn Sie mir eine längere Mitteilung zu machen haben, so täten Sie besser daran, Ihren Mantel abzulegen.«
»Das lohnt sich nicht. Er hat mich angerufen.«
»Wann?«
»Heute morgen, kurz nach neun.«
Er faßte den Kommissar scharf ins Auge, zögerte sekundenlang und fragte dann:
»Gilt es noch immer?«
»Was ich Ihnen gestern gesagt habe? Selbstverständlich. Wenn Pierrot unschuldig ist, hat er nichts zu befürchten.«
»Er hat sie nicht umgebracht, sonst hätte er es mir nämlich gesagt. Ich habe ihm also bestellt, daß Sie bereit sind, ihn zu treffen, daß er den Ort selber bestimmen kann und daß er hinterher wieder frei ist.«
»Ich möchte etwas klarstellen, um Mißverständnisse zu vermeiden: Wenn ich ihn für unschuldig halte, so lassen wir ihn vollkommen in Ruhe. Wenn ich ihn aber für schuldig halte oder im Zweifel bin, so verpflichte ich mich, unser Zusammentreffen nicht auszunutzen, das heißt, er kann ungehindert fortgehen, und die
Weitere Kostenlose Bücher