Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
mit hochgeschlagenem Mantelkragen, aus dem nur die Pfeife herausragte, saß Maigret im Fond des Wagens, rührte sich nicht und machte einen so schlechtgelaunten Eindruck, daß der Chauffeur nach einigem Zögern eine Zeitung aus der Tasche zog:
»Sie gestatten doch?« murmelte er.
Man konnte sich fragen, wie er beim schwachen Schein der Gaslaterne überhaupt lesen konnte.
Schon den ganzen Nachmittag hatte Maigrets Gesicht diesen Ausdruck gehabt. Seine Kollegen wußten, daß es eigentlich nicht schlechte Laune war, aber es kam auf dasselbe hinaus, und man hatte am Quai des Orfèvres die Parole »Nicht stören!« ausgegeben.
Er hatte sein Arbeitszimmer kaum verlassen, war nur zwei-, dreimal bei den Inspektoren aufgetaucht und hatte sie groß angesehen, als hätte er vergessen, was er dort eigentlich wollte. Ein paar Akten, die seit Wochen unerledigt dalagen, hatte er mit einem Eifer bearbeitet, als seien sie plötzlich brandeilig geworden. Um halb fünf hatte er dann das Amerikanische Spital in Neuilly angerufen.
»Professor Gouin operiert wohl gerade?«
»Ja. Vor einer Stunde wird er nicht fertig sein. Wer spricht bitte?«
Er hatte eingehängt und Janviers Bericht über die übrigen Hausbewohner durchgelesen. Den Aussagen dieser Leute zufolge hatte niemand den Schuß gehört. Im gleichen Stock wie Louise Filon, auf der rechten Seite, wohnte eine gewisse Madame Mettetal, eine noch junge Witwe, die den Montagabend im Theater verbracht hatte. Im Stockwerk darunter hatten die Crémieux ein Diner für zehn Personen gegeben, das sehr geräuschvoll geendet hatte.
Dann hatte Maigret noch einen anderen Fall bearbeitet und ein paar belanglose Telefongespräche geführt.
Um halb sechs hatte er wieder in Neuilly angerufen und erfahren, daß die Operation beendet war und der Professor sich gerade ankleidete. Worauf Maigret hinuntergegangen war und einen Wagen genommen hatte.
Auf den Gehsteigen der Avenue Carnot kamen nur wenige Passanten und nur hie und da ein Auto vorbei. Über die Schulter des Chauffeurs hinweg konnte er eine fettgedruckte Schlagzeile auf der Titelseite lesen:
Musiker Pierrot wieder auf freiem Fuß
Er selber hatte die Reporter informiert, wie er es versprochen hatte. Die schwach beleuchtete Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte sechs Uhr zwanzig. Hätte es in der Nähe eine Kneipe gegeben, so wäre er jetzt einen Schnaps trinken gegangen. Es tat ihm leid, nicht unterwegs angehalten zu haben.
Erst um zehn vor sieben hielt drüben vor dem Haus ein Taxi. Etienne Gouin stieg als erster aus und blieb einen Augenblick unbeweglich auf dem Gehsteig stehen, bis auch seine Assistentin ausgestiegen war.
Er stand neben einer Straßenlaterne, in deren Licht sich seine Gestalt deutlich abhob. Er mußte einen halben Kopf größer sein als Maigret und hatte fast ebenso breite Schultern. Sein Körperumfang ließ sich nur schwer abschätzen, weil sein Mantel lose an ihm herabhing. Er schien ihm zu weit zu sein und war auch viel länger, als es die Mode in diesem Jahr vorschrieb. Auf sein Äußeres schien er keinen übertriebenen Wert zu legen, und den Hut hatte er sich irgendwie auf den Kopf gestülpt.
Im großen und ganzen sah er wie ein abgemagerter Dicker aus, dem nur noch ein starkes Knochengerüst geblieben ist.
Während die junge Frau Geld aus ihrer Manteltasche nahm und den Chauffeur bezahlte, stand er gelassen da und starrte in die Luft. Er verharrte auch in der gleichen Stellung, als sich das Taxi entfernte und sie etwas zu ihm sagte. Offenbar erinnerte sie ihn, bevor sie ging, an seine Verabredungen für den nächsten Tag.
Sie begleitete ihn bis zum Hauseingang, reichte ihm die Aktentasche aus dunkelbraunem Leder und sah ihm nach, bis er in den Fahrstuhl stieg. Dann ging sie in Richtung Place des Ternes davon.
»Fahr ihr nach.«
»In Ordnung, Chef.«
Der Wagen brauchte sich nur die leicht abfallende Avenue hinabgleiten zu lassen. Lucile Decaux ging schnell und ohne sich umzusehen. Sie war klein, dunkelhaarig und, soweit man das aus der Entfernung beurteilen konnte, ziemlich rundlich. Sie bog in die Rue des Acacias ein und betrat zuerst einen Wurstladen, dann die Bäckerei daneben und verschwand schließlich hundert Schritte weiter in einem baufällig wirkenden Haus.
Maigret blieb noch etwa zehn Minuten im Wagen sitzen und folgte ihr dann ins Haus. Er wandte sich an die Concierge, deren Loge sichtlich einer anderen Kategorie angehörte als die in der Avenue Carnot und die so klein war, daß ein
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