Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
Kinderbett und ein Bett für Erwachsene sie völlig ausfüllten.
»Ich möchte zu Mademoiselle Decaux.«
»Vierter Stock rechts. Sie ist gerade nach Hause gekommen.«
Es gab keinen Fahrstuhl. Im vierten Stock drückte er auf eine Klingel und hörte Schritte näherkommen.
»Wer ist da?« fragte eine Stimme hinter der Tür.
»Kommissar Maigret.«
»Einen Augenblick bitte.«
Die Stimme klang weder überrascht noch erschrocken. Bevor Mademoiselle Decaux ihm öffnete, ging sie in ein anderes Zimmer, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie zurückkam. Als sich der Türflügel öffnete und er sie in Morgenrock und Pantoffeln vor sich stehen sah, verstand Maigret die Verzögerung.
»Treten Sie ein«, sagte sie, während sie ihn neugierig ansah.
Die Wohnung, die aus drei Zimmern und einer Küche bestand, war äußerst sauber gehalten; das Parkett war so blank gebohnert, daß man auf ihm wie auf einer Eisbahn hätte schlittern können. Sie führte ihn in einen Salon, eine Art Studio, in dem es außer einem Diwan mit gestreiftem Überzug Regale mit einer Unzahl von Büchern, einen Plattenspieler und Etageren mit Stößen von Schallplatten gab. Über dem Kamin, in dem die junge Frau schon ein paar Holzscheite angezündet hatte, hing eine gerahmte Fotografie von Etienne Gouin.
»Gestatten Sie, daß ich meinen Mantel ablege?«
»Ich bitte Sie darum. Ich war gerade dabei, es mir bequem zu machen, als Sie läuteten.«
Hübsch war sie nicht. Sie hatte unregelmäßige Züge und wulstige Lippen; aber ihr Körper wirkte anziehend.
»Ich störe Sie doch nicht beim Abendessen?«
»Das macht nichts. Setzen Sie sich.«
Sie deutete auf einen Fauteuil, setzte sich auf den Rand des Diwans und zog den Morgenrock über ihre nackten Beine.
Sie stellte ihm keine Fragen und betrachtete ihn, wie manche Leute eine Berühmtheit betrachten, die sie endlich leibhaftig vor sich sehen.
»Ich wollte Sie nicht im Krankenhaus stören.«
»Das wäre Ihnen auch kaum gelungen, weil ich nämlich im Operationssaal war.«
»Assistieren Sie gewöhnlich, wenn der Professor operiert?«
»Immer.«
»Schon seit langem?«
»Seit zehn Jahren. Vorher war ich seine Schülerin.«
»Sie sind Ärztin?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»Sechsunddreißig.«
Sie antwortete spontan, und obwohl ihre Stimme ziemlich unbeteiligt klang, glaubte Maigret ein gewisses Mißtrauen, vielleicht sogar eine gewisse Feindseligkeit herauszuhören.
»Ich bin hierhergekommen, um ein paar Einzelheiten zu klären. Sie wissen wahrscheinlich, daß bei einer Untersuchung wie dieser hier alles nachgeprüft werden muß?«
Sie wartete auf die Frage, die jetzt kommen mußte.
»Wenn ich nicht irre, haben Sie Montag abend kurz vor acht Ihren Chef in der Avenue Carnot abgeholt?«
»Das stimmt. Ich habe zuerst ein Taxi angehalten und dann von der Loge der Concierge aus den Professor angerufen, um ihm zu sagen, daß ich auf ihn warte.«
»Machen Sie das immer so?«
»Ja. Ich gehe nur hinauf, wenn es oben im Büro etwas zu tun gibt oder wenn ich irgendwelche Papiere holen muß.«
»Wo warteten Sie auf den Professor?«
»Vor dem Fahrstuhl.«
»Sie wissen also, daß er nicht gleich herunterkam?«
»Er hat sich ein paar Minuten im dritten Stock aufgehalten. Ich denke, Sie wissen Bescheid?«
»Ich weiß Bescheid.«
»Warum stellen Sie diese Frage nicht dem Professor selbst?«
Er zog es vor, nichts darauf zu erwidern.
»War er wie immer? Schien ihn etwas zu beschäftigen?«
»Nur der Zustand seines Patienten.«
»Hat er Ihnen unterwegs nichts gesagt?«
»Er spricht nicht viel.«
»Sie müssen ein paar Minuten nach acht im Krankenhaus gewesen sein. Was geschah dann?«
»Wir gingen sofort zu dem Kranken. Der diensthabende Assistenzarzt begleitete uns.«
»Haben Sie den ganzen Abend bei dem Kranken verbracht?«
»Nein. Der Professor ist etwa eine Stunde bei ihm geblieben und hat auf bestimmte Reaktionen gewartet, die aber nicht eingetreten sind. Ich habe ihm gesagt, es sei besser, wenn er sich ausruhe.«
»Wann ging er in den vierten Stock hinauf?«
»Ich weiß, daß Sie diese Fragen schon im Krankenhaus gestellt haben.«
»Sie wissen es wohl von der Oberschwester?«
»Von wem, ist unwichtig.«
»Wie spät war es also?«
»Kurz vor neun.«
»Sind Sie nicht mit hinaufgegangen?«
»Ich blieb beim Patienten. Es war ein Kind.«
»Ich weiß. Wann kam der Professor herunter?«
»Ich ging gegen elf hinauf, um ihm zu melden, daß das, worauf er
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