Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
saß auf dem Rand des Bettes, das nun mitten im Raum stand, und weinte still vor sich hin.
»Merkwürdig«, murmelte Maigret. »Ich würde doch zu gerne wissen, ob …«
Das Mädchen sprang mit einem Satz auf.
»Aber ja! Das ist es! Eine Frau war hier! Sie versteckte sich … Aber die Männer haben sie trotzdem aufgesucht. War Falluts Vorname nicht Octave?«
Der Kommissar war selten so verwirrt gewesen.
»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte er, aber es klang wenig überzeugend.
»Aber da steht es geschrieben! Die ganze Geschichte! Vier Männer, die …«
Wie sollte er sie beruhigen?
»Glauben Sie meiner Erfahrung. Bei einer Untersuchung darf man nicht voreilig urteilen. Gestern noch sagten Sie mir, Le Clinche sei eines Mordes nicht fähig.«
»Ja!« schluchzte sie. »Ja! Das glaube ich auch! Ist es nicht …«
Sie klammerte sich an ihrer Hoffnung fest.
»Er heißt Pierre.«
»Ich weiß, und? Jeder zehnte Seemann heißt Pierre, und es waren fünfzig Männer an Bord. Und da stehen auch die Namen Gaston und Henri.«
»Was halten Sie davon?«
»Nichts.«
»Werden Sie das dem Untersuchungsrichter zeigen? Wenn ich denke, daß ich es war, die …«
»Beruhigen Sie sich! Wir haben noch gar nichts entdeckt, außer daß das Bett aus diesem oder jenem Grund angehoben wurde und daß jemand Vornamen in die Wand geritzt hat.«
»Es gab eine Frau.«
»Warum eine Frau?«
»Aber …«
»Kommen Sie! Meine Frau wartet auf uns.«
»Ach ja.«
Gehorsam wischte sie sich die Tränen ab, putzte sich die Nase.
»Ich hätte nicht kommen sollen. Aber ich glaubte … Es ist unmöglich, daß Pierre … Hören Sie! Ich muß ihn so bald wie möglich sehen! Ich werde mit ihm sprechen, alleine. Sie werden das Notwendige veranlassen, nicht wahr?«
Bevor sie den Steg betrat, warf sie einen haßerfüllten Blick zurück auf das schwarze Schiff, das für sie ein anderes geworden war, seit sie wußte, daß sich eine Frau an Bord versteckt hatte.
Madame Maigret sah ihnen neugierig entgegen.
»Aber weinen Sie doch nicht! Sie wissen doch, daß alles wieder in Ordnung kommt!«
»Nein, nein!« Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.
Sie konnte nicht sprechen. Die Stimme erstickte ihr im Hals. Noch einmal drehte sie sich nach dem Schiff um. Madame Maigret, die nicht wußte, was geschehen war, sah ihren Mann fragend an.
»Bring sie zurück ins Hotel. Versuch sie zu beruhigen.«
»Ist etwas passiert?«
»Eigentlich nicht. Ich komme wahrscheinlich ziemlich spät.«
Er sah ihnen nach. Marie Léonnec drehte sich noch zehnmal um, und Madame Maigret mußte sie wie ein Kind mit sich ziehen.
Maigret wäre fast wieder an Bord gegangen, aber er hatte Durst, und im Rendez-vous des Terres-Neuvas brannte immer noch Licht.
An einem Tisch saßen vier Seeleute und spielten Karten. Vor der Theke stand ein junger Offiziersanwärter. Er hatte einen Arm um die Taille der Kellnerin gelegt, die immer wieder kicherte.
Der Wirt schaute dem Kartenspiel zu und erteilte Ratschläge.
»Ach! Sie sind’s!« empfing er Maigret.
Er schien nicht besonders erfreut, ihn wiederzusehen. Im Gegenteil, er ließ ein gewisses Unbehagen durchblicken.
»Los, Julie! Bediene den Herrn Kommissar! Wozu darf ich Sie einladen?«
»Zu gar nichts! Wenn Sie erlauben, werde ich wie ein normaler Gast mein Bier trinken.«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen … Ich …«
Würde der Tag unter dem Zeichen des Zorns enden? Einer der Matrosen brummte in normannischer Mundart etwas vor sich hin, und Maigret übersetzte es sich ungefähr so:
»Schön! Da riecht es wieder mal brenzelig!«
Der Kommissar blickte ihn fest an. Der andere wurde rot und stotterte:
»Kreuz-Trumpf!«
»Du hättest Pik spielen müssen«, sagte Léon, nur um etwas zu sagen.
5.
Adèle und ihr Begleiter
Das Telefon läutete. Léon eilte hin und rief gleich darauf Maigret an den Apparat.
»Hallo!« sagte eine schläfrige Stimme am anderen Ende der Leitung. »Kommissar Maigret? … Hier spricht der Sekretär des Kommissariats. Ich habe schon in Ihrem Hotel angerufen und man sagte mir dort, Sie seien vielleicht im Rendez-vous des Terre-Neuvas. Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kommissar. Seit einer halben Stunde hänge ich jetzt am Telefon. Ich kann den Chef einfach nicht erreichen. Und ich frage mich, ob der Kommissar von der Bereitschaftspolizei Fécamp nicht schon verlassen hat … Also, da sind vorhin zwei komische Leutchen zu mir gekommen, die, wie es scheint, dringende Aussagen zu machen
Weitere Kostenlose Bücher