Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
spielte Akkordeon.
Als Maigret den Kopf wandte, sah er am Kai zwei Frauengestalten. Er eilte zum Steg und ging an Land.
»Was wollt ihr denn hier?«
Gleich darauf errötete er, weil er sich seines barschen Tones schämte, vor allem aber auch, weil er sich bewußt war, selber von dieser Wut gepackt worden zu sein, die alle Akteure des Dramas befallen hatte.
»Wir wollen das Schiff sehen«, sagte Madame Maigret mit entwaffnender Demut.
»Es ist meine Schuld!« fiel Marie Léonnec ein. »Ich habe darauf bestanden.«
»Schon gut! Schon gut! Habt ihr zu Abend gegessen?«
»Es ist zehn Uhr! Haben Sie …«
»Ja, danke.«
Das Rendez-vous des Terre-Neuvas war eines der wenigen Lokale, in denen noch Licht brannte. Auf der Mole sah man verschwommen ein paar Silhouetten: Touristen, die gewissenhaft ihren Abendspaziergang absolvierten.
»Haben Sie etwas entdeckt?« fragte Le Clinches Braut.
»Noch nicht. Oder jedenfalls nicht viel.«
»Ich wage nicht, Sie um einen Gefallen zu bitten!«
»Sagen Sie es nur!«
»Ich würde mir gerne Pierres Kabine anschauen. Darf ich?«
Er zuckte die Schultern und führte sie hin. Madame Maigret weigerte sich, den Steg zu überqueren.
Die Kajüte war ein regelrechter Metallkasten. Hier die Funkgeräte, da ein Eisentisch, eine Bank und eine Koje. An einer Wand das Bild von Marie Léonnec in bretonischer Tracht. Ein Paar alte Stiefel auf dem Boden, eine Hose auf der Koje.
Das Mädchen atmete diese Atmosphäre mit einer Mischung aus Neugier und Freude ein.
»Ja! Es ist nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte … Seine Stiefel hat er wohl nie gewichst. Schauen Sie! Aus diesem Glas hat er immer getrunken, ohne es zu spülen …«
Ein merkwürdiges Mädchen! Schüchtern, schwach, wohlerzogen einerseits, andererseits aber energisch und mutig. Zögernd fragte sie:
»Und die Kabine des Kapitäns?«
Maigret lächelte versteckt, denn er wußte, daß sie im Grunde ihres Herzens hoffte, etwas zu entdecken. Also führte er sie hin. Er nahm sogar eine Lampe mit, die er an Deck fand.
»Wie können sie es in diesem Gestank nur aushalten?« seufzte sie.
Sie blickte sich aufmerksam um. Und Maigret bemerkte ihre Verwirrung, als sie verlegen fragte:
»Warum ist das Bett angehoben worden?«
Maigret ließ seine Pfeife ausgehen. Sie hatte richtig beobachtet. Die ganze Besatzung schlief in Kojen, deren Platz bereits beim Bau des Schiffes ausgespart worden war. Nur der Kapitän hatte ein richtiges Eisenbett.
Und unter jeden Fuß hatte man einen Holzklotz geklemmt.
»Finden Sie das nicht merkwürdig? Man könnte meinen …«
»Sprechen Sie weiter!«
Keine Spur mehr von schlechter Laune! Maigret sah die Spannung in dem blassen Gesicht des Mädchens, das, froh über die Entdeckung, nun nachdenklich fortfuhr:
»Man könnte meinen … Aber Sie werden mich auslachen … Man könnte meinen, daß man das Bett angehoben hat, damit sich jemand darunter verstecken kann. Ohne diese Holzklötze läge die Matratze viel zu tief. Aber so …«
Und bevor er es verhindern konnte, legte sie sich auf den Boden und glitt trotz des Schmutzes unter das Bett.
»Platz genug!« rief sie.
»Ja. Kommen Sie jetzt.«
»Einen Augenblick noch, ja? Geben Sie mir bitte mal die Lampe, Herr Kommissar.«
Dann verstummte sie.
Er konnte sich nicht vorstellen, was sie da unten machte und wurde ungeduldig.
»Nun?«
»Ja, warten Sie …«
Plötzlich kroch sie hervor. Ihr graues Kostüm war voller Schmutz, aber ihre Augen glänzten vor Erregung.
»Ziehen Sie das Bett vor, Sie werden sehen …«
Sie sprach leise. Ihre Hände zitterten. Maigret zog mit einem Ruck das Bett von der Wand, musterte den Fußboden.
»Ich sehe nichts.«
Da er keine Antwort bekam, drehte er sich um. Er sah, daß sie weinte.
»Was haben Sie entdeckt? Warum weinen Sie?«
»Hier. Lesen Sie.«
Er mußte sich bücken und die Lampe dicht an die Wand halten. Jetzt konnte er im Holz ein paar Wörter erkennen, die man mit einem spitzen Gegenstand, einer Nadel oder einem Nagel, eingeritzt hatte.
Gaston – Octave – Pierre – Hen …
Den letzten Namen hatte man nicht zu Ende geschrieben. Dennoch war es offensichtlich, daß man sich sehr viel Zeit genommen hatte. Bestimmte Buchstaben hatten gewiß mehr als eine Stunde Arbeit erfordert. Einige trugen Schnörkel und Verzierungen, wie man sie anbringt, wenn einem sehr langweilig ist.
Über dem Namen Octave waren zwei Hirschgeweihe eingeritzt, was dem ganzen eine komische Note gab.
Das Mädchen
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