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Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer

Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer

Titel: Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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heißt? … Genau das war er. Ich habe ihn zweimal erwischt, als er die Briefe an meine Verlobte las. Und er meinte ganz unverfroren:
    ›Sind die für deine Mätresse?‹
    An diesem Abend … Ich glaube, der Kapitän spazierte auf Deck, weil er zu nervös war, um einschlafen zu können. Es war ziemlich starker Seegang. Hin und wieder wurde das Deck von einer Welle überspült. Aber ein richtiger Sturm war es nicht.
    Ich stand vielleicht zehn Meter weg … Ich hörte nicht viel, aber ich sah die beiden Gestalten. Der Junge stand stolz wie ein Hahn da und lachte. Der Kapitän hatte den Kopf eingezogen und die Hände in den Taschen vergraben.
    Jean-Marie hatte meine Verlobte ›Mätresse‹ genannt. Und in diesem Tonfall zog er sicher auch Fallut auf. Seine Stimme klang schrill. Ich erinnere mich, gehört zu haben:
    ›Und wenn ich allen sage, daß …‹
    Was es bedeutete, wurde mir erst später klar … Der Bengel hatte entdeckt, daß der Kapitän eine Frau in seiner Kabine versteckt hielt. Er war furchtbar stolz darauf. Er protzte damit. Er war niederträchtig, ohne es zu wissen …
    Und dann ist folgendes passiert: Der Kapitän holte aus, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Der Junge wich dem Schlag behende aus und schrie etwas, gewiß eine neue Drohung, es allen zu sagen. Falluts Hand schlug gegen ein Wantseil. Er mußte sich wehgetan haben. Und da hat ihn die Wut gepackt …
    Die Fabel vom Löwen und der Fliege … Er vergaß sich, rannte dem Jungen nach. Der lachte zuerst noch und entwischte ihm, aber dann geriet auch er in Panik.
    Es war ein Zufall, daß niemand sonst es gesehen hat, aber jeder hätte sofort begriffen: Fallut war verrückt vor Angst.
    Ich sah, wie er die Arme ausstreckte, um Jean-Marie an den Schultern zu packen. Aber anstatt ihn zu fassen, versetzte er ihm einen Stoß nach vorn …
    Das ist alles … Es gibt solche Fügungen des Schicksals … Der Kopf schlug gegen einen Spill … Ich hörte ein scheußliches Geräusch … Der Schädel …«
     
    Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er war leichenblaß. Schweiß rann ihm von der Stirn.
    »In diesem Augenblick preschte wieder eine Welle heran und ergoß sich über die liegende Gestalt. Der Kapitän beugte sich über das nasse Bündel, und da entdeckte er mich … Wahrscheinlich kam es mir gar nicht in den Sinn, mich zu verstecken … Ich ging ein paar Schritte weiter vor und konnte gerade noch sehen, wie sich der Körper des Jungen krümmte und dann plötzlich in einer Haltung erstarrte, die ich nie vergessen werde … Tot … Durch einen dummen Zufall! … Wir blickten uns verständnislos an, konnten das Furchtbare nicht begreifen …
    Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Fallut wagte das Kind nicht zu berühren. Ich tastete die Brust, die Hände, den verletzten Kopf ab. Kein Blut, keine offene Wunde. Er hatte sich den Schädel gebrochen.
    Wir standen vielleicht noch eine Viertelstunde da und wußten nicht, was tun. Immer wieder schlug uns die Gischt ins Gesicht, wir froren. Es war trostlos.
    Der Kapitän war ein anderer Mensch geworden. Es war, als wäre auch in ihm etwas zerbrochen.
    Schließlich sagte er in einem beißend kalten Ton:
    ›Die Besatzung darf die Wahrheit nicht erfahren. Wegen der Disziplin.‹
    Und dann hob er vor meinen Augen den Jungen auf. Es gab nur eines zu tun … Ach ja, ich erinnere mich, daß er ihm mit dem Daumen das Kreuzeszeichen über der Stirn machte …
    Der Körper schlug noch zweimal gegen den Schiffsrumpf, ehe ihn das Meer verschlang. Wir standen immer noch beide in der Dunkelheit. Wir wagten nicht, uns anzusehen. Wir wagten nicht zu sprechen …«
    Maigret hatte seine Pfeife angesteckt, und das Mundstück steckte fest zwischen seinen Zähnen.
    Eine Krankenschwester kam herein. Die beiden Männer sahen sie so abwesend an, daß sie verwirrt stotterte:
    »Ich wollte das Fieber messen …«
    »Später!«
    Als die Tür wieder geschlossen war, murmelte Maigret:
    »Und da hat er Ihnen von seiner Geliebten erzählt?«
    »Von dem Augenblick an war er nie wieder der alte. Er war bestimmt nicht richtig verrückt. Aber irgend etwas stimmte nicht mehr mit ihm. Er nahm mich bei der Schulter und murmelte:
    ›Wegen einer Frau, junger Mann!‹
    Ich fror. Ich fieberte. Ich konnte meinen Blick nicht von der Stelle wenden, wo das Meer den Körper verschlungen hatte …
    Hat man Ihnen vom Kapitän erzählt? Er war klein und dürr und hatte ein energisches Gesicht. Er sprach gern in unvollendeten

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