Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
Maigret gegen acht Uhr morgens sein Zimmer verließ, spürte er eine Leere im Kopf und ein komisches Gefühl im Magen, als hätte er zuviel getrunken.
»Läuft es nicht, wie du es möchtest?« hatte seine Frau ihn gefragt.
Er hatte die Schultern gezuckt, und sie hatte ihn nicht weiter bedrängt. Jetzt trat er auf die Hotelterrasse hinaus, und er sah das schimmernde Meer vor sich, das von einem unechten dunklen Grün war. Plötzlich entdeckte er Marie Léonnec. Aber das Mädchen war nicht alleine. Ein Mann saß an ihrem Tisch. Sie erhob sich hastig und sagte zögernd:
»Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen? Er ist gerade angekommen.«
Ein frischer Wind wehte, und der Himmel war bedeckt. Die Möwen flogen dicht über dem Wasser.
»Glauben Sie mir, es ist mir eine große Ehre, Herr Kommissar. Eine große Ehre, ich bin sehr glücklich …«
Maigret blickte ihn mißmutig an. Er war ein kleiner Mann, der nicht lächerlicher gewirkt hätte als irgendein anderer, wäre seine Nase nicht zwei- oder dreimal so groß wie eine normale gewesen und obendrein noch rot und porig wie eine Erdbeere.
Natürlich konnte er nichts dafür! Es war ein echtes Gebrechen! Trotzdem sah man nur diese Nase, und wenn er sprach, starrte man nur auf dieses unförmige Ding, das ihm pathetisch im Gesicht stand.
»Darf ich Sie zu etwas einladen?«
»Danke. Ich habe gerade gefrühstückt.«
»Nun, vielleicht einen kleinen Schnaps?«
»Unter keinen Umständen!«
Aber er ließ nicht locker. Gebot es nicht die Höflichkeit, den anderen zum Trinken zu überreden?
Und Maigret beobachtete ihn, beobachtete seine Tochter, die ihm, abgesehen von der Nase, ähnlich sah. Und wie er sie so musterte, konnte er sich gut vorstellen, wie sie in zehn Jahren aussehen würde, wenn der Charme ihrer Jugend dahin war.
»Ich will gleich zum Thema kommen, Herr Kommissar. Das ist meine Devise! Ich bin wegen der Sache die ganze Nacht unterwegs gewesen. Als Jorissen mich aufsuchte und mir sagte, er würde meine Tochter begleiten, habe ich meine Zustimmung gegeben. Man kann also nicht von mir sagen, daß ich nicht großzügig bin …«
Maigret hatte es eilig, wegzukommen. Und dann diese Nase! Und dieser geschwollene Ton, in dem sich ein Kleinbürger so gerne reden hörte!
»Trotzdem ist es meine Pflicht als Vater, mich zu erkundigen, nicht wahr? Deshalb bitte ich Sie, mir nach bestem Wissen und Gewissen zu sagen, ob Sie diesen jungen Mann für unschuldig halten …«
Marie Léonnec wandte den Blick ab. Irgendwie schien sie zu spüren, daß mit der Intervention ihres Vaters die Dinge keineswegs in Ordnung kommen würden.
Als sie alleine herbeieilte, um ihrem Verlobten zu helfen, hatte ihr das ein gewisses Ansehen verschafft. Zumindest hatte sie damit die Leute gerührt.
Aber jetzt hatte ihre Familie eingegriffen, und alles war anders. Zu sehr spürte man die Atmosphäre des kleinen Ladens in Quimper, wo vor der Abreise des Vaters alles besprochen wurde, wo die Nachbarn über den Fall klatschten.
»Sie wollen von mir wissen, ob er Kapitän Fallut ermordet hat?«
»Ja. Sie müssen verstehen, es ist äußerst wichtig, daß …«
Maigret starrte mit abwesender Miene vor sich hin.
»Nun …«
Er sah, daß die Hände des Mädchens zitterten.
»Er hat ihn nicht getötet … Gestatten Sie? … Ich habe etwas Dringendes zu erledigen. Ich werde bestimmt das Vergnügen haben, Sie später noch einmal zu sehen.«
Es war eine Flucht! Er hatte es so eilig, daß er sogar einen Stuhl auf der Terrasse umstieß. Er konnte sich denken, daß die beiden ihm verdutzt nachschauten, aber er drehte sich nicht um, um sich davon zu überzeugen.
Er ging den Weg am Kai entlang. Die »Océan« lag ein ganzes Stück entfernt. Aber er sah, daß Männer mit Seesäcken auf den Schultern angekommen waren und nun ihre erste Bekanntschaft mit dem Schiff machten. Von einem Karren wurden Säcke mit Kartoffeln geladen. Auch der Reeder mit seinen gewichsten Stiefeln und dem Bleistift hinterm Ohr war da.
Im Rendez-vous des Terre-Neuvas, dessen Tür offen stand, ging es laut zu. Maigret konnte P’tit Louis erkennen, um den sich die Neuen versammelt hatten, vor denen er große Reden hielt.
Der Kommissar ging weiter und beschleunigte seinen Schritt, als er sah, wie der Wirt ihm ein Zeichen machte. Fünf Minuten später klingelte er am Portal des Krankenhauses.
Der Assistenzarzt war noch sehr jung. Unter seinem Kittel trug er einen modischen Anzug und eine geschmackvolle Krawatte.
»Der
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