Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
Sätzen.
›So! Fünfundfünfzig Jahre. Kurz vor der Pensionierung. Einen guten Ruf. Ein paar Ersparnisse. Aus! Weg! In einer Minute! In weniger als einer Minute! Wegen eines Jungen, der … Oder vielmehr wegen eines Mädchens.‹
Und so hat er mir in dieser Nacht mit leiser, bebender Stimme alles gesagt, in allen Einzelheiten … Eine Frau aus Le Havre. Eine Frau, die gewiß nicht viel taugte, darüber war er sich klar. Aber er konnte sie nicht mehr entbehren.
Er hatte sie mitgenommen und im gleichen Augenblick das Gefühl gehabt, daß ihre Anwesenheit Unglück bringen würde.
Sie war da … Sie schlief …«
Der Funker geriet in Erregung.
»Ich weiß nicht, was er mir alles erzählt hat. Er hatte das Bedürfnis, über sie zu sprechen. Voller Haß und leidenschaftlich zugleich …
›Ein Kapitän darf es nicht zu einem Skandal kommen lassen, der seine Autorität untergraben könnte!‹
Ich höre diese Worte noch. Es war das erstemal, daß ich zur See fuhr. Und ich hielt das Meer jetzt für ein Ungeheuer, das uns alle verschlingen würde.
Fallut nannte mir ein paar Beispiele. Vor ein paar Jahren hatte ein anderer Kapitän auch seine Geliebte mitgenommen. Es hatte solche Schlägereien an Bord gegeben, daß drei Männer nicht mehr zurückkehrten.
Es war windig. Die Gischt spritzte zu uns herauf. Ab und zu spülte eine Welle um unsere Füße und wir mußten aufpassen, daß wir auf den glitschigen Metallplanken nicht ausrutschten.
Er war nicht verrückt, nein! Aber er war auch nicht mehr Fallut!
›Erst diese Fahrt zu Ende führen. Danach wird man sehen.‹
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. Er schien mir ehrbar und wunderlich zugleich. Er klammerte sich an sein Pflichtbewußtsein.
›Man darf es nicht erfahren. Ein Kapitän kann nicht unrecht haben!‹
Ich war krank vor Aufregung. Ich konnte nicht mehr denken. Die Gedanken schwirrten mir im Kopf herum. Es war ein richtiger Alptraum, den ich im Wachsein erlebte.
Diese Frau in der Kabine. Diese Frau, von der sich ein Mann wie der Kapitän nicht mehr losreißen konnte. Diese Frau, deren Namen allein ihn schon heftiger atmen ließ.
Ich schrieb einen Brief nach dem anderen an meine Verlobte. Aber wir waren für drei Monate voneinander getrennt. Ich hatte dieses bange Gefühl vorher nicht gekannt. Und als er über ihre Haut oder ihren Körper sprach, errötete ich, ohne zu wissen warum.«
Maigret fragte eindringlich:
»Niemand an Bord außer Ihnen beiden kannte die Wahrheit über Jean-Maries Tod?«
»Niemand.«
»Und es war der Kapitän, der traditionsgemäß das Totengebet gesprochen hat?«
»In der Morgendämmerung. Das Wetter war trüb. Wir fuhren durch einen eiskalten Nebel.«
»Hat die Besatzung nichts gesagt?«
»Es gab merkwürdige Blicke, es wurde geflüstert. Aber Fallut war strenger denn je und er sprach in einem schneidenden Ton. Er duldete nicht die geringste Widerrede. Schon ein Blick, der ihm nicht gefiel, machte ihn wütend. Er belauerte die Männer, als wollte er dahinterkommen, ob sie einen Verdacht hegten.«
»Und Sie?«
Le Clinche antwortete nicht. Er streckte den Arm nach einem Glas Wasser aus, das auf dem Nachttisch stand, und trank gierig.
»Sie sind viel um die Kabine herumgestrichen, nicht wahr? Sie wollten diese Frau sehen, die den Kapitän so in Verwirrung gebracht hatte. Geschah es in der folgenden Nacht?«
»Ja. Da habe ich sie kurz gesehen. Dann, in der Nacht darauf … Ich hatte herausgefunden, daß der Schlüssel zum Funkraum auch in die Tür der Kapitänskabine paßte. Der Kapitän war auf Wache. Ich bin hinein, wie ein Dieb …«
»Und Sie sind ihr Liebhaber geworden.«
Das Gesicht des Funkers wurde hart.
»Ich schwöre Ihnen … Sie können das nicht verstehen! Es herrschte eine Atmosphäre, die nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hatte. Dieser Junge … Und die Totenfeier am Tag vorher … Trotzdem trat mir immer wieder dasselbe Bild vor Augen, wenn ich daran dachte: Das Bild einer außergewöhnlichen Frau, deren Körper, deren Haut einen Mann so völlig verändern konnte.«
»Hat sie Sie provoziert?«
»Sie lag auf dem Bett, halb nackt …«
Er wurde puterrot und wandte den Kopf ab.
»Wie lange sind Sie in der Kabine geblieben?«
»Vielleicht zwei Stunden … Ich weiß es nicht mehr … Als ich mit roten Ohren herauskam, stand der Kapitän vor der Tür … Er hat nichts gesagt. Er ließ mich vorbei. Ich hätte mich ihm fast zu Füßen geworfen, um hinauszuschreien, daß es nicht meine
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