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Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer

Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer

Titel: Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Funker? Ja, ich habe ihm heute morgen die Temperatur und den Puls gemessen. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut.«
    »Ist er bei Bewußtsein?«
    »Ich denke ja. Er hat nichts gesprochen, aber er hat mich die ganze Zeit mit dem Blick verfolgt.«
    »Kann man mit ihm über ernste Dinge reden?«
    Der Assistenzarzt machte eine vage Geste.
    »Warum nicht? Die Operation ist gelungen. Fieber hat er keines. Wollen Sie zu ihm?«
    Pierre Le Clinche lag alleine in einem kleinen, weißgestrichenen Zimmer, in dem eine feuchte Hitze herrschte. Er sah Maigret mit völlig klaren Augen entgegen.
    »Sie sehen, wir haben alles für ihn getan. In einer Woche wird er aufstehen können. Leider besteht die Möglichkeit, daß er hinken wird, denn eine Sehne in der Hüfte wurde durchtrennt. Und er wird sich noch etwas schonen müssen. Soll ich Sie mit ihm allein lassen?«
    Es war schon verwirrend. Als Le Clinche gestern hergebracht worden war, war er nichts als ein blutüberströmtes und schmutziges Häufchen Elend, das mehr tot als lebendig war.
    Und nun sah Maigret ihn wieder, in einem weißen Bett, das Gesicht zwar noch ein bißchen müde und blaß, aber eine Ruhe ausstrahlend, die er nie zuvor an ihm gesehen hatte, und in seinen Augen lag ein fast heiterer Ausdruck.
    Vielleicht zögerte Maigret deshalb. Er durchquerte den Raum, preßte einen Augenblick lang seine Stirn gegen das Doppelfenster und sah auf den Hafen und den Fischdampfer, auf dem Männer in roten Matrosenblusen geschäftig umhergingen.
    »Glauben Sie, daß Sie kräftig genug sind, um sich mit mir zu unterhalten?« murmelte er plötzlich und wandte sich dem Bett zu.
    Le Clinche nickte vorsichtig mit dem Kopf.
    »Sie wissen, daß ich mich nicht offiziell mit diesem Fall befasse. Mein Freund Jorissen hat mich gebeten, Ihre Unschuld zu beweisen. Das habe ich getan. Sie haben Kapitän Fallut nicht ermordet!«
    Er holte tief Luft und rückte dann plötzlich, um endlich einen Schlußpunkt hinter die ganze Sache setzen zu können, mit seinem Problem heraus.
    »Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit über die Ereignisse des dritten Tages, das heißt über den Tod Jean-Maries.«
    Er vermied es, den Patienten dabei anzusehen. Er stopfte sich eine Pfeife, um seine Hände zu beschäftigen, und da er viel zu lange auf eine Antwort warten mußte, fuhr er leise fort:
    »Es war abends. Nur Kapitän Fallut und Sie waren an Deck. Waren Sie zusammen?«
    »Nein!«
    »Der Kapitän befand sich auf dem Achterdeck?«
    »Ja … Ich kam gerade aus meiner Kabine … Er sah mich nicht … Ich beobachtete ihn, weil mir irgend etwas in seinem Benehmen komisch vorkam …«
    »Sie wußten noch nicht, daß eine Frau an Bord war?«
    »Nein. Ich glaubte vielmehr, er würde Schmuggelware in seiner Kabine aufbewahren, weil er sie immer so sorgfältig verschloß.«
    Die Stimme klang müde. Aber Le Clinche nahm sich zusammen und fuhr fort:
    »Es ist das Schrecklichste, das ich je erlebt habe, Herr Kommissar … Wer hat es verraten? Sagen Sie es mir!«
    Und er schloß die Augen und lag abwartend da, wie damals, als er sich durch seine Jackentasche eine Kugel in den Bauch schoß.
    »Niemand … Sie haben also den Kapitän gesehen, der wahrscheinlich ziemlich nervös war, wie stets seit dem Auslaufen. Aber jemand muß am Ruder gestanden haben?«
    »Ein Steuermann. Aber er konnte uns in der Dunkelheit nicht sehen.«
    »Der Schiffsjunge ist dazugekommen …«
    Le Clinche unterbrach ihn und richtete sich halb auf, wobei er sich an dem Strick, der zu diesem Zweck von der Decke hing, festklammerte und hochzog.
    »Wo ist Marie?«
    »Im Hotel. Ihr Vater ist heute früh angekommen.«
    »Um sie nach Hause zu holen! … Ja, das ist gut so … Er muß sie mitnehmen … Und sie darf auf keinen Fall herkommen!«
    Er erregte sich. Seine Stimme klang matter, geriet ins Stocken. An seinen glänzenden Augen sah man, daß er zu fiebern begann.
    »Ich weiß nicht, wer mit Ihnen gesprochen hat … Aber ich will Ihnen jetzt alles sagen …«
    Die Erregung hatte ihn so plötzlich und brutal übermannt, daß man glaubte, er spräche im Delirium.
    »Etwas Unerhörtes … Sie kannten den Jungen nicht … Ein ganz mageres Kerlchen … Er steckte in einem Anzug, den man aus einem alten Anzug seines Vaters geschneidert hatte. Am ersten Tag hatte er Angst, er weinte … Wie soll ich es Ihnen erklären? … Dann wurde er rotznäsig. Aber ist das in seinem Alter nicht normal? … Sie wissen, was gemeint ist, wenn man jemanden einen Saubengel

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