Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Titel: Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
dicken schwarzen Überzieher an, ließ die Hände in den Taschen vergraben. Er glich einem Menschen, der von einer langen Reise zurückkehrt und die vertrauten Orte mit neuen Augen betrachtet.
    So betrachtete er jetzt auch die Fotografien einer Wohnung, in die am Tag zuvor eingebrochen worden war, und las die Angaben auf Karteikarten, die einer seiner Kollegen angefordert hatte.
    Ein kahlköpfiger, langer, magerer Jüngling mit dicken Brillengläsern vor den kurzsichtigen Augen beobachtete ihn überrascht und erschrocken aus seiner Ecke.
    Auf seinem Arbeitstisch lagen Lupen aller Art, Schabmesser, Pinzetten, Tintenfässer, Reagentien sowie eine Glasplatte, die von einer starken Glühbirne beleuchtet war.
    Das war Moers, der Spezialist für Papier-, Tinten- und Handschriftenanalysen.
    Ihm war klar, daß der Kommissar nur seinetwegen gekommen war, auch wenn er ihn jetzt nicht einmal ansah, sondern scheinbar ziellos im Labor umherging.
    Dann, endlich, zog Maigret die Pfeife aus der Tasche, zündete sie an und rief mit gespielter Munterkeit:
    »So! … Und jetzt an die Arbeit!«
    Da Moers wußte, wo der Kommissar gerade herkam, begann er zu begreifen, tat jedoch, als hätte er nichts bemerkt.
    Maigret zog den Mantel aus, gähnte, ließ seine Gesichtsmuskeln spielen, als käme er endlich wieder zu sich. Er packte einen Stuhl bei der Lehne, rückte ihn neben den jungen Mann, setzte sich rittlings darauf und fragte in liebevollem Ton:
    »Nun, mein kleiner Moers?«
    Es war vorüber. Er hatte endlich die Bürde abgeworfen, die auf seinen Schultern lastete.
    »Schieß los!«
    »Ich habe die ganze Nacht über dem Brief gesessen. Ein Jammer, daß er durch so viele Hände gegangen ist. Jetzt hat es natürlich keinen Sinn mehr, nach Fingerabdrücken zu suchen …«
    »Damit hatte ich auch nicht gerechnet.«
    »Heute früh war ich auf einen Sprung im ›Coupole‹ und hab dort alle Tintenfässer untersucht … Kennen Sie das Lokal? … Es besteht aus mehreren Räumen. Da ist erstens die große Brasserie, deren eine Hälfte zur Essenszeit als Speiserestaurant benutzt wird. Dann das Eßlokal im ersten Stock. Dann die Terrasse vor dem Haus. Und schließlich die kleine Bar links, wo sich die Stammkundschaft trifft.«
    »Kenn ich.«
    »Die Tinte, die für den Brief verwendet wurde, stammt aus der Bar. Der Text wurde mit der linken Hand geschrieben, aber nicht von einem Linkshänder, sondern von einer Person, die weiß, daß die Handschriften von Linkshändern einander häufig sehr ähnlich sehen.«
    Der an den Sifflet gerichtete Brief lag immer noch vor Moers auf der Glasplatte.
    »Eines ist sicher: Der Absender ist ein Intellektueller, und ich möchte schwören, daß er mehrere Sprachen beherrscht, sowohl schriftlich als auch mündlich. Wenn ich es jetzt mit der Graphologie versuchte … Damit verlassen wir allerdings das Gebiet der exakten Wissenschaften …«
    »Nur zu!«
    »Nun ja, wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es hier mit einem ungewöhnlichen Menschen zu tun … Erstens liegt seine Intelligenz weit über dem Durchschnitt. Am auffälligsten schien mir jedoch die merkwürdige Mischung aus Willensstärke und Willensschwäche, Kälte und Gefühlsbetontheit. Es ist die Schrift eines Mannes. Dennoch finden sich darin ausgesprochen weibliche Züge …«
    Moers war bei seinem Lieblingsthema angelangt. Er glühte vor Eifer. Wider Willen mußte Maigret lächeln, und das verwirrte den jungen Mann.
    »Ich weiß, das ist alles nicht sehr klar, und ein Untersuchungsrichter würde mich nicht einmal ausreden lassen … Und doch … Sehen Sie, Kommissar, ich würde wetten, daß der Mann, der diesen Brief geschrieben hat, an einer schweren Krankheit leidet und daß er das weiß … Hätte er die rechte Hand benutzt, so könnte ich Ihnen mehr darüber sagen … Ach ja, etwas hab ich vergessen! Auf dem Papier befinden sich Flecken. Möglich, daß die aus der Druckerei stammen … Aber einer davon ist ein Kaffeefleck, und zwar ist es Café crème. Und zum Abschneiden des oberen Blattrandes hat man kein Messer, sondern einen stumpfen Gegenstand benutzt, vielleicht einen Löffel …«
    »Mit anderen Worten: Der Brief wurde gestern morgen in der Bar vom ›Coupole‹ von einem Gast geschrieben, der Café crème trank und der mehrere Sprachen beherrscht …«
    Maigret stand auf, streckte die Hand aus.
    »Danke, Kleiner. Kann ich den Brief wiederhaben?«
    Mit einem undeutlichen Brummen verabschiedete er sich von den anderen und ging hinaus. Als

Weitere Kostenlose Bücher