Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
die Tür ins Schloß fiel, bemerkte einer mit einer gewissen Bewunderung:
»Ich muß schon sagen! Der hat ja ein Pech …«
Moers, der aus seiner Verehrung für Maigret kein Hehl machte, bedachte den Mann mit einem so strengen Blick, daß dieser verstummte und sich wieder in die Analyse vertiefte, mit der er gerade beschäftigt war.
Paris bot das trübe Bild einer Stadt an naßkalten Oktobertagen: Vom Himmel, der einer schmutzigen Decke glich, fiel hartes Licht. Auf den Straßen schimmerten noch die Spuren der nächtlichen Regenschauer.
Und die Passanten selbst trugen die verdrossenen Mienen von Leuten zur Schau, die sich noch nicht an die Kälte gewöhnt haben.
Im Präsidium hatten sie die ganze Nacht hindurch Dienstbefehle getippt, die durch Boten den verschiedenen Polizeirevieren zugestellt und telegrafisch an sämtliche Gendarmerien, Zollämter und Bahnhöfe übermittelt worden waren.
Infolgedessen hatten alle Beamten, die mit der Bevölkerung direkt in Berührung kamen – die uniformierten Schutzmänner ebenso wie die Leute von der Straßenpolizei, der Fremdenpolizei, der Sittenpolizei –, die gleiche Personenbeschreibung im Kopf, und alle hofften, denselben Mann zu finden, während sie die Vorübergehenden musterten.
So war es in ganz Paris und auch in den Vororten. Auf den Landstraßen hielten die Gendarmen jeden Vagabunden an und ließen sich seine Papiere zeigen.
In den Zügen, an den Grenzen, wunderten sich die Reisenden, weil sie eingehender als sonst befragt wurden.
Gesucht wurde Joseph Heurtin, vom Schwurgericht Seine zum Tode verurteilt, aus der Santé entflohen und nach einem Handgemenge mit Inspektor Dufour im Schankraum des ›Citanguette‹ spurlos verschwunden.
»Im Augenblick seiner Flucht hatte er noch zirka zweiundzwanzig Franc in der Tasche«, hieß es in der Dienstmeldung, die Maigret persönlich verfaßt hatte.
Und jetzt verließ Maigret ganz allein das Gerichtsgebäude. Er ging nicht einmal mehr in sein Büro am Quai des Orfèvres, sondern fuhr mit dem nächsten Autobus bis zur Bastille, klingelte im dritten Stock eines Hauses an der Rue du Chemin-Vert.
Es roch nach Jod und Suppenhuhn. Eine Frau, die noch keine Zeit gefunden hatte, sich zurechtzumachen, sagte:
»Ach! Da wird er sich aber freuen …«
Inspektor Dufour lag mit trauriger und besorgter Miene in seinem Zimmer.
»Wie geht’s, alter Junge?«
»Es geht … Man hat mir gesagt, daß das Haar auf der Narbe nicht mehr nachwächst. Ich werde eine Perücke tragen müssen …«
Wie eben noch im Labor wanderte Maigret auch jetzt umher wie jemand, der nicht weiß, wo er sich niederlassen soll. Nach einer Weile knurrte er:
»Du nimmst es mir übel, wie?«
Dufours hübsche junge Frau stand im Türrahmen.
»Der – und Ihnen was übelnehmen! Seit heute früh redet er nur davon, wie Sie sich wohl aus der Affäre ziehen werden … Er wollte unbedingt, daß ich zur Post laufe und Sie anrufe …«
»Tja! Dann also bis bald«, sagte der Kommissar. »Irgendwie muß es ja weitergehen …«
Er kehrte nicht nach Hause zurück, obgleich er nur fünfhundert Meter weiter weg, am Boulevard Richard-Lenoir, wohnte. Er bewegte sich ziellos, weil er das Bedürfnis hatte, sich zu bewegen, in der Menge unterzutauchen, die achtlos an ihm vorbeiströmte.
Und je länger er so durch Paris wanderte, um so mehr verflüchtigte sich dieser unsichere Ausdruck eines ertappten Schuljungen, der ihm den ganzen Morgen im Gesicht gestanden hatte. Seine Züge wurden straffer. Er rauchte eine Pfeife nach der anderen wie in seinen besten Tagen.
Monsieur Coméliau wäre höchst überrascht, ja entrüstet gewesen, wenn er geahnt hätte, daß die Fahndung nach Joseph Heurtin die kleinste Sorge war, die den Kommissar in diesem Augenblick beschäftigte.
Für den Kommissar war es nebensächlich zu wissen, wann und wo sie Heurtin finden würden. Er war irgendwo, einer unter mehreren Millionen Menschen. Aber Maigret war überzeugt, daß er ihn an dem Tag, da er ihn brauchte, ohne große Mühe zu fassen bekam.
Nein! Er dachte an den im ›Coupole‹ geschriebenen Brief. Und auch, und vielleicht noch mehr, an eine Frage, die er bei seinen ersten Ermittlungen übersehen hatte. Ein unverzeihlicher Fehler! Doch damals im Juli war ja jedermann von Heurtins Schuld überzeugt gewesen! Der Untersuchungsrichter hatte sich sofort des Falls bemächtigt und so die Polizei ausgeschaltet.
»Das Verbrechen wurde in Saint-Cloud ungefähr um halb drei verübt … Noch vor
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