Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
weshalb Radek geredet und mir das Geld gezeigt hat: Er will die Untersuchung vorübergehend in andere Bahnen lenken, indem er mich mit neuen Rätseln zu verwirren versucht …
Aber warum? … Um Heurtin die Flucht zu ermöglichen? … Um Crosby zu kompromittieren?
Gleichzeitig kompromittiert er sich selbst …‹
Der Kommissar mußte an die Worte des Tschechen denken:
›Sie sind von Anfang an von falschen Tatsachen ausgegangen.‹ Das klang doch, bei Gott, als wüßte er, daß Maigret ein neues Ermittlungsverfahren erwirkt hatte, obgleich das Urteil des Schwurgerichts längst gefällt war.
Falsche Tatsachen? Schön, aber wie und in welchem Umfang waren sie gefälscht worden? Immerhin lagen handfeste Beweise vor, die unmöglich gefälscht sein konnten.
Theoretisch hätte der Mörder von Madame Henderson und ihrer Zofe sich Heurtins Schuhe aneignen können, um falsche Spuren in der Villa zu hinterlassen.
Mit den Fingerabdrücken war das schon etwas anderes. Man hatte überall welche gefunden, und zwar auf Gegenständen, die in jener Nacht nicht vom Tatort entfernt worden waren, an Vorhängen zum Beispiel, auf den Betttüchern …
Wo lag da der Haken? Heurtin war um Mitternacht im ›Pavillon-Bleu‹ gesehen worden. Heurtin war um vier Uhr früh in die Rue Monsieur-le-Prince zurückgekehrt. Beides stand zweifelsfrei fest.
›Sie begreifen nicht und werden auch nie begreifen‹, behauptete dieser Radek, der jetzt plötzlich in den Mittelpunkt der Affäre rückte, nachdem vorher niemand von seiner Existenz gewußt hatte.
William Crosby hatte den Tschechen tags zuvor im ›Coupole‹ völlig ignoriert. Und als Maigret seinen Namen erwähnte, hatte Crosby nicht mit der Wimper gezuckt.
Dennoch war das Geld von der Tasche des einen in die des andern gewandert!
Und was noch merkwürdiger war: Radek hatte es spürbar darauf angelegt, diese Tatsache der Polizei zur Kenntnis zu bringen. Ja, er schien sich jetzt geradezu in den Vordergrund zu drängen, die Hauptrolle an sich zu reißen.
›Von dem Augenblick an, da die Polizei ihn wieder auf freien Fuß gesetzt hatte, bis zu dem Moment, da ich ihn im ›Coupole‹ traf, hat er genau zwei Stunden Zeit gehabt … In diesen zwei Stunden hat er sich rasiert, hat das Hemd gewechselt – und sich in den Besitz des Geldes gebracht …‹
Über einen Punkt zumindest konnte Maigret sich Gewißheit verschaffen, indem er schlußfolgerte:
›Das hat ihn im besten Fall eine halbe Stunde gekostet. Also ist ihm praktisch keine Zeit mehr geblieben, nach Nandy zu fahren …‹
Das Dorf liegt auf einem Plateau über der Seine. Hier oben fegte der Westwind durch die Bäume, daß sie sich bogen. Ein Jäger bewegte sich, einer winzigen Silhouette gleich, über die verlassenen Felder, die sich braun und endlos bis zum Horizont erstreckten.
Der Chauffeur öffnete die Trennscheibe.
»Wohin soll ich Sie fahren?«
»Zum Dorfeingang … Warten Sie dort auf mich!«
Es gab nur eine einzige lange Straße und in ihrer Mitte ein Schild mit der Aufschrift: ›Evariste Heurtin, Gastwirt‹.
Als Maigret die Tür aufstieß, bimmelte eine Glocke, aber in der mit bunten Plakaten geschmückten Gaststube war niemand zu sehen. Immerhin hing der Hut von Wachtmeister Lucas an einem Nagel.
»Hallo? Ist da jemand?«
Über seinem Kopf ertönten Schritte, doch es vergingen noch mindestens fünf Minuten, ehe endlich jemand die Treppe im hinteren Teil des Flurs herunterkam.
Maigret erblickte einen Mann, der etwa sechzig Jahre alt sein mochte, ziemlich groß war und ihn mit glasigen Augen anstarrte.
»Was wollen Sie?« rief er durch den Flur.
Und gleich darauf:
»Sind Sie auch von der Polizei?«
Die Stimme klang neutral, fast ausdruckslos. Der Mann ersparte sich weitere Worte. Mit dem Daumen deutete er die Treppe hinauf, machte kehrt, erklomm bedächtig die Stufen.
Vom oberen Stock drangen undefinierbare Geräusche herab. Die Treppe war schmal, die Wände waren weiß getüncht. Der Wirt öffnete eine Tür. Maigrets Blick fiel auf Wachtmeister Lucas, der mit gesenktem Kopf am Fenster stand und seinen Vorgesetzten nicht sofort bemerkte.
Gleichzeitig sah Maigret ein Bett, einen darüber gebeugt stehenden Mann und eine alte Frau, die in einem abgenutzten Voltaire-Sessel kauerte. Es war ein geräumiges Zimmer mit sichtbaren Deckenbalken, an den Wänden fehlte hier und dort ein Stück Tapete. Der Boden war aus Tannenholz und knarrte unter jedem Schritt.
»Schließen Sie die Tür!« rief der Mann am Bett
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