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Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Titel: Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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in barschem Ton.
    Es war der Arzt. Seine Tasche stand geöffnet auf dem runden Mahagonitisch. Mit verstörter Miene trat Lucas endlich näher.
    »Schon da, Chef? … Wie haben Sie das nur geschafft? … Es ist noch keine Stunde vergangen, seitdem ich angerufen habe …«
    Auf dem Bett lag Joseph Heurtin mit nacktem Oberkörper, leichenfahler Haut, hervorstehenden Rippen. Wie ein zerbrochener Gegenstand.
    Die alte Frau wimmerte unaufhörlich. Der Vater stand aufrecht am Bett, und die Leere in seinen Augen war furchterregend.
    »Kommen Sie«, sagte Lucas, »ich werde Ihnen genau berichten …«
    Draußen auf dem Treppenabsatz blieb der Wachtmeister stehen, zögerte, stieß die Tür eines zweiten, noch unaufgeräumten Zimmers auf. Frauenkleider lagen herum. Das Fenster ging auf den Hof, wo Hühner im aufgeweichten Mist scharrten.
    »Nun …?«
    »Ein scheußlicher Morgen, glauben Sie mir! … Nachdem ich mit Ihnen telefoniert hatte, kam ich geradewegs hierher zurück und gab dem Gendarmen ein Zeichen, daß er gehen könne … Was dann passiert ist, mußte ich mir selber nach und nach zusammenreimen.
    Vater Heurtin war mit mir in der Gaststube. Er fragte mich, ob ich etwas essen wolle … Ich spürte, daß er mich mißtrauisch beobachtete, vor allem als ich ihm sagte, ich würde vielleicht die Nacht über bleiben und müsse hier auf jemanden warten …
    Dann hörte man plötzlich ein Tuscheln von hinten aus der Küche, und ich sah, wie der Wirt aufhorchte.
    ›Bist du es, Victorine?‹ rief er.
    Eine Weile blieb alles still. Dann schlurfte die Alte herein. Ihr Gesicht hatte einen sonderbaren Ausdruck. Sie sah aus wie jemand, der einen Schreck erlebt hat und sich nichts anmerken lassen will …
    ›Ich geh die Milch holen‹, erklärte sie.
    ›Wieso? Dazu ist es zu früh …‹
    Trotzdem ging sie weg, in ihren Holzpantinen, ein Tuch auf dem Kopf, während ihr Mann sich auf den Weg zur Küche machte. Dort saß nur die Tochter.
    Ich hörte laute Stimmen, Schluchzen, einen einzigen Satz, den ich verstehen konnte:
    ›Ich hätte es mir denken sollen … Man braucht ja nur deine Mutter anzusehen …‹
    Mit langen Schritten überquerte er den Hof, verschwand durch die Tür, wahrscheinlich die Tür zum Schuppen, wo Joseph Heurtin sich versteckt hatte.
    Er kam erst nach einer Stunde wieder heraus. Die Tochter bediente eben zwei Fuhrleute in der Gaststube.
    Sie hatte gerötete Augen. Sie vermied es, uns anzusehen. Die Alte kehrte heim. Das Getuschel hinten im Haus begann von neuem.
    Als der Vater hereinkam, hatte er diesen Blick, den Sie an ihm gesehen haben …
    Erst im nachhinein habe ich mir dieses Kommen und Gehen erklären können … Die beiden Frauen hatten Joseph im Schuppen entdeckt und beschlossen, dem Alten nichts zu sagen.
    Der merkte aber, daß irgend etwas in der Luft lag. Nachdem seine Frau das Haus verlassen hatte, stellte er die Tochter zur Rede, und die konnte den Mund nicht halten. Darauf suchte er unseren Jungen auf und erklärte ihm, er wolle ihn nicht länger im Haus haben …
    Sie haben den alten Heurtin gesehen, Kommissar … Ein anständiger Mann, der sicher strenge Grundsätze hat … Inzwischen war ihm natürlich klargeworden, wer ich bin …
    Trotzdem glaube ich nicht, daß er mir den Jungen ausgeliefert hätte … Vielleicht hatte er sogar beschlossen, ihm zur Flucht zu verhelfen.
    Wie auch immer, gegen zehn Uhr, als ich mich eben am Fenster zum Hof niedergelassen hatte, sah ich die Alte in Strümpfen durch den Regen waten und sich der Mauer entlang bis zum Schuppen tasten.
    Ein paar Sekunden später stieß sie einen markerschütternden Schrei aus … Ein grausiges Schauspiel, Chef! … Ich traf gleichzeitig mit dem alten Heurtin dort ein, und ich schwöre Ihnen, ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie ihm der Schweiß aus der Haut brach.
    Der Junge lehnte in einer sonderbaren Haltung an der Mauer, und man mußte schon sehr genau hinsehen, um zu erkennen, daß er sich an einem Nagel aufgehängt hatte.
    Der Alte besaß mehr Geistesgegenwart als ich. Er war es, der den Strick durchschnitt. Er warf seinen Sohn auf das Stroh und begann an seiner Zunge zu zerren, während er seiner Tochter zurief, sie solle einen Arzt holen …
    Seither geht hier alles drunter und drüber … Sie haben ja gesehen … Mir ist die Kehle immer noch wie zugeschnürt …
    In Nandy weiß niemand von dem Vorfall. Man glaubt, die alte Frau sei erkrankt …
    Heurtin und ich haben den Jungen hinaufgetragen, und der Arzt knetet jetzt

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